Betula Pendula: Erster Zyklus: Frühling (German Edition)
zusammengesteckt.
„Warum schläfst du noch nicht?“, fragte sie. Sie sprach sehr leise und langsam, sah Viktor dabei fest in die Augen und dehnte die Wörter stark aus, als ob sie sichergehen wollte, dass jeder einzelne Buchstabe verstanden wurde. Das war ein Zeichen dafür, dass sie noch immer böse auf ihn war.
„Ich will ein Chewbacca-Kostüm für meinen Geburtstag, bitte bitte bitte. Kannst du mir das nähen? Bitte?!“
Seine Mutter sagte gar nichts und sah ihn nur an. Ihre grauen Augen ruhten auf ihm, regungslos.
„Bitte, Mama!“
Helena blinzelte langsam, ihre langen Oberlidwimpern strichen kurz über die des Unterlides, und fragte: „Warum?“
„Weil Chewbacca cool ist! Guck mal!“ Viktor sprang vom Bett, lief zu ihr und hielt ihr sein Album hoch. Sie schaute darauf, aber anscheinend auf das falsche Bild und in die falsche Richtung. Viktor zog das Album zu sich und zeigte mit dem Finger auf das Feld 23: „Hier! Chewbacca! Er ist ein Wookiee und Pilot und rettet Yoda!“
Helena sah auf ihn herunter und sagte nichts.
„Bitte , Mama, bitte bitte bitte!!“ Viktor hüpfte auf und ab. „Näh mir ein Chewbacca-Kostüm, bitte!“
„Ich nähe dir schon ein Darth-Maul-Kostüm“, antwortete sie, weiterhin in dem langsamen und ruhigen Ton. Viktor wusste, dass es angsteinflößend sein und ihn einschüchtern sollte.
„Mama, bitte! Ich verspreche, dass ich dir helfen werde. Ich werde alles machen, alles!“ Er umarmte ihr Bein und vergrub sein Gesicht in ihrem Knie.
Helena bückte sich und hob das Album vom Boden auf, hielt es sich auf halber Armlänge hin und schaute darauf. „Das hier?“, fragte sie und zeigte auf die Nr. 23.
Viktor nickte, umklammerte ihre linke Hand und küsste ihre Fingerknöchel mehrmals. „Bitte bitte bitte!“
Helena betrachtete das Bild. „Der ist haarig“, stellte sie knapp fest.
„Ja!“, schrie Viktor.
Sie blickte eine Weile auf den Aufkleber. Viktor lehnte sich an ihr Bein und schaute zu ihr hoch. Helena war eine große Frau, alles an ihr war groß. Ihre Haare waren sehr dick und sehr lang, ihre Hände waren breit und knochig, ihre Beine muskulös und unerschütterlich, ihre Schultern und Oberarme ein massives Konstrukt, das selten bei Frauen vorkam. Die Knochen in ihrem Gesicht schienen so, als ob ein Bildhauer einen guten Tag gehabt hatte und mit viel Energie etwas Immenses erschaffen wollte. Viktor überlegte, dass seine Mutter bei „Star Wars“ die beste Kriegerin wäre, und ihr Sticker würde sehr teuer und wertvoll sein. Sogar Darth Vader hätte vielleicht Angst vor ihr.
Helena schien völlig angstfrei zu sein, als existiere das Konzept „Angst“ gar nicht in ihrer Welt. Einmal, als Viktor vier Jahre alt gewesen war, hatte Helena Ratten in ihrem Schneideratelier gehabt. Eine Lieferung Seide aus Südafrika war eingetroffen, und anscheinend hatten sich mehrere Ratten auf dem Schiff in die Kisten verirrt. Ihre Mitarbeiter waren in Panik ausgebrochen, und Viktor war von der Hysterie angesteckt worden. Er hatte eine gesehen, wie sie unter einer Kiste hervorlugte, mit zitternden Barthaaren, wachsamen Augen und einem dicken Schwanz, der hin und her zuckte. Viktor fand das gruselig.
Gem, der Sohn einer Näherin, erzählte, dass Ratten zu Menschen kamen, wenn diese schliefen, sie ableckten, und da der Speichel eine betäubende Wirkung hatte, merkten die Menschen das nicht. Und wenn sie dann aufwachten, hatten die Ratten die Nase abgekaut oder die Ohren oder alle Finger. Das würde Leuten in den Gefängnissen auf den Philippinen oft passieren. Oded, Helenas Mitarbeiter, erzählte, dass Ratten die Pest brachten, eine Krankheit, bei der man total schwarz anläuft, die Haut verfault und man dann erstickt und anfängt, aus den Ohren zu bluten. Zwei Schneiderinnen, Maricel und Riza, erzählten, dass Ratten sich von Stoff ernährten, dass bald das Atelier pleitegeht, weil sie alles auffressen, die Mitarbeiter bald arbeitslos werden, dass sie jetzt ihre Kündigung einreichen und sich schon mal eine Stelle irgendwo anders suchen müssen. Maricel erzählte auch, dass Ratten sehr schnell sehr viele Kinder bekamen, und Viktor stellte sich vor, wie die Schneiderräume bald voller Ratten sein würden, wie der Besucherraum sich vom Boden bis zur Decke mit sich windenden grauen Tieren füllen würde, und wenn sie noch mehr Kinder kriegten, dann würden sie sich in der ganzen Stadt ausbreiten, dann würden alle ohne Nasen und Finger herumlaufen und an der Pest sterben,
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