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Betula Pendula: Erster Zyklus: Frühling (German Edition)

Betula Pendula: Erster Zyklus: Frühling (German Edition)

Titel: Betula Pendula: Erster Zyklus: Frühling (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Kassem
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oder gerade Mutter geworden. Diesen Sommer hatte sie sich Helenas Schneidereiwerkstatt als Kreißsaal ausgesucht. Sie inspizierte tagelang jeden einzelnen Winkel des Gartens, huschte irgendwann ins Atelier, sah sich dort um und fand einen geeigneten Platz unter dem Treppenhaus, das zu den Wohnungen hochführte. Als Helena das sah, packte sie Kennedy mit einer Hand am Nacken und mit der anderen Hand einen leeren Karton, der im Treppenhaus lag, ging in den Garten hinaus und stellte den Karton unter die Bedachung des Geräteschuppens. Sie ging wieder ins Atelier, holte eine Handvoll Tücher, legte den Karton damit aus und stellte dann die fauchende Kennedy im Karton ab. Die Katze schnüffelte am Karton, roch an den Tüchern, drehte sich ein paar Mal herum, fauchte Helena lustlos wieder an und legte sich dann hin. Vier Tage später, am frühen Morgen, hörte man sie laut jammern und heulen, und eine Stunde später hatte sie fünf winzige Babys. Helena brachte ihr mehrmals am Tag etwas zu essen, stellte ihr eine Schale Wasser hin, und die beiden versöhnten sich wieder.
    Am gestrigen Tag, als Viktor im Garten war und mit Gem und Hala gelangweilt den Ball hin - und herkickte, hörten sie plötzlich in der Stille des warmen Nachmittags ein weinerliches Jammern. Es war so leise und so piepsig, dass sie es nicht sofort wahrnahmen, sondern erst eine Weile verging, bis sie darauf aufmerksam wurden. Sie schauten zu Kennedy, aber die döste vor sich hin und sah tiefenentspannt aus. Das Piepsen erklang wieder, Viktor und Gem schauten nach, woher das Geräusch kam. Im Blumenbeet, ein paar Meter von Kennedy entfernt, fanden sie ein winziges, struppiges Kätzchen. Viktor schaute in den Karton und sah, dass Kennedy nur noch vier Kinder hatte. Als sie versuchten, das Kätzchen wieder in den Karton zu legen, fauchte Kennedy wütend und zeigte ihre Krallen. Sie schlug mit der Pfote und schubste das Kätzchen heraus.
    Da standen sie nun und blickten auf das schwarze , haarige Ding herunter. Es hatte verklebte und verkrustete Augen, war abgemagert und zu schwach zum Laufen, und viele weiße Läuse wimmelten auf ihrem Fell. Das Kätzchen kroch langsam auf sie zu. Viktor fand das gruselig. Er ging einen Schritt zur Seite. Das Kätzchen miaute, fiel in sich zusammen, rappelte sich zitternd wieder hoch und kroch auf Gem zu. Er schubste es leicht mit dem Fuß, es fiel um und hatte große Schwierigkeiten, wieder aufzustehen.
    Dann hatte Gem die Idee, mit dem Kätzchen Fußball zu spielen. Er schubste es wieder mit seinem Fuß und es rollte Viktor vor die Füße. Viktor dachte kurz nach, schaute Gem an, der ihn herausfordernd ansah, dann kickte er es zurück. Das Kätzchen gab piepsende Laute von sich und wimmerte unaufhörlich, Kennedy gähnte und schlief wieder ein.
    Hala schrie, dass sie Monster seien und sofort aufhören sollten. Sie machten jedoch weiter, es war interessanter, als mit einem Ball zu spielen. Irgendwann wurde das aber auch langweilig, da das Kätzchen nicht mehr viele Laute von sich gab und sich kaum noch bewegte. Gem lief ins Atelier und kam mit einem Feuerzeug zurück. Er kniete sich neben das Kätzchen, hielt die Flamme an seinen verfilzten Schwanz, und nach einer Weile fing es an zu brennen. Hala lief schreiend ins Atelier, und als die Erwachsenen kamen, stand das Kätzchen in Flammen, dunkler Rauch kräuselte sich von ihm hoch und ein fürchterlicher Gestank erfüllte den Hof.
    Hala weinte und vergrub ihren Kopf in Maricels Kleid, die Erwachsenen standen herum und schauten sich entsetzt das kleine Feuer an. Kennedy blinzelte müde und gähnte. Hamid, der Schneider, holte eine Flasche Wasser und kippte sie auf das Kätzchen, von dem nur noch ein schwarzer Klumpen undefinierbaren Materials inmitten von verkohltem Gras übrig geblieben war.
    Helena packte Viktor am Ohr und zerrte ihn hoch zur Wohnung. Sie warf ihn auf die Couch, baute sich vor ihm auf und schrie ihn lange an. Sie fuchtelte mit den Armen, brüllte, bis ihre Stimme versagte und nur noch ein heiseres Krächzen möglich war, schlug mit der Faust immer wieder auf die Kopflehne des Sofasessels und umkreiste Viktor wie ein tollwütiger, hungriger Tiger, der auf seine Beute wütend war. Dann atmete sie tief ein, schrie weiter, bis ihre Stimme kollabierte, und fing dann an zu weinen.
    Viktor saß mit offenem Mund da und hielt sich an der Couch fest. Er hatte seine Mutter noch nie so gesehen, und er verstand erstmal gar nichts. Er wusste, dass sie nicht wütend war,

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