Betula Pendula: Erster Zyklus: Frühling (German Edition)
Wut sah bei ihr immer ganz anders aus. Helenas Wut war angsteinflößend, aber das, was sie jetzt war, war einfach nur … überwältigend. Viktor hatte mal im Fernsehen eine Doku gesehen, von einem Sturm auf See, es war Nacht, ein Schiff war auf dem Meer und man konnte wenig sehen, alles war ein fürchterliches Durcheinander von Wasser, Luft und Lärm, aus allen Richtungen kommend, es gab keine Konstante mehr, keinen Horizont, an dem man sich orientieren konnte, das, was oben war, war in der nächsten Sekunde unten. Viktor hatte da das Wort „Naturgewalt“ verstanden. Während er im Wohnzimmer saß und der Naturgewalt namens Helena Abies zusah und sich wie das ausgelieferte Schiff vorkam, wurde es ihm ganz schwindlig. Er konnte auch nicht richtig zuhören und nahm nur ungefähr jedes fünfte Wort auf, aber der ganze Monolog bestand, soweit er es hören konnte, fast nur aus dem Wort „Katze“ und „Wie konn test du nur!“.
Irgendwann fing er an zu heulen, es war alles zu verwirrend. Er hatte seine Mutter noch nie gleichzeitig schreien und weinen gesehen. Er verstand, dass das, was sie mit dem Kätzchen angestellt hatten, falsch war. Von unten hörte man die laute Stimme von Maricel, die anscheinend genauso hysterisch ihren Sohn anschrie.
Als Helena fertig war, stand sie ein paar Minuten da und starrte ihn an. Viktor schniefte, wischte sich mit einer Hand übers Gesicht und seine Nase am Ärmel ab, während er den Teppich anstarrte. Er kontrollierte ab und zu verstohlen, ob sie ihn noch ansah, und schaute dann wieder nach unten. Er wusste, dass die Naturgewalt vorbei war und dass jetzt wahrscheinlich die Wut kam. Das war beruhigend.
Helena kam auf ihn zugeschossen, packte ihn am Arm, in ihrer unnachahmlichen Weise, ein Griff so fest, dass er jeden Muskel lähmte, und doch so zart, dass er gar nicht weh tat, und zog ihn ins Badezimmer. Sie drehte den Wasserhahn in der Badewanne auf und hauchte: „Ausziehen. Baden. Haare waschen. Fünf Minuten. Fünf Minuten! “ Sie verließ das Badezimmer, er hörte, wie sie in sein Zimmer ging und seinen Schrank öffnete.
Viktor beeilte sich. Er wusste nicht, was gerade passierte, aber er beeilte sich, zog sich aus, kletterte in die Badewanne und seifte sich ein. Er hielt seinen Kopf unter den Wasserhahn, tat sich Shampoo in die Haare und schrubbte sie. Dann spülte er schnell seinen Kopf, kletterte heraus, nahm sich ein Handtuch vom Regal und lief in sein Zimmer. Helena stand mit beiden Händen in den Hüften neben seinem Bett, zeigte darauf und flüsterte: „Anziehen. Schnell.“ Viktor sah, dass sie seinen Smoking ausgelegt hatte. Sie hatte ihm den Smoking letztes Jahr genäht, als er zu seinem Geburtstag James Bond sein wollte. Er rubbelte sich schnell trocken, ließ das Handtuch fallen und zog schnell die Unterwäsche, die Hose und das Hemd an. Helena steckte ihm das Hemd in die Hose, band ihm die Krawatte und befahl, dass er das Jackett und die Schuhe anziehen soll. Während er sich die Schuhe zuband, überlegte er für eine Sekunde, was gerade passierte und warum er sein James-Bond-Kostüm anziehen sollte, aber dann hatte er keine Zeit mehr nachzudenken, denn Helena kam mit einem Kamm, zog ihm einen sauberen Scheitel und kämmte ihm dann seine dunkelbraunen Haare so lange, bis sie glatt und ordentlich an seiner Kopfhaut lagen. Dann packte sie ihn an der Schulter und lenkte ihn die Treppen hinunter in den Garten. Die ganzen Mitarbeiter standen dort, ein paar Nachbarn, der Gemüsehändler und der Barbesitzer aus der Straße. In der Mitte des Hinterhofs stand Maricel mit hochrotem Kopf, die Hände in die Hüften gestemmt, daneben ein rotzverschmierter Gem. Er schaute erschrocken auf, als Helena auf ihn zukam.
Helena packte Viktors Ohr mit der linken Hand, Gems Ohr mit der rechten und zog sie zum schwarzen, verkohlten Klumpen auf dem Rasen. Sie ging dann in den Geräteschuppen, kam mit einem Spaten heraus und warf ihn den Jungs vor die Füße. Viktor bekam den Befehl, die Leiche aufzuheben und in seinen Händen zu halten. Er tat das und würgte ein paar Mal. Der Klumpen stank nach süßlichem Rauch, war weich und wabbelig, schwarzes Wasser tropfte auf seine Schuhe. Als er sich übergab und das Kätzchen fallen ließ, befahl Helena Gem, er solle es sofort aufheben. Er schüttelte den Kopf und fing an zu weinen, aber seine Mutter schrie ihn an, er solle das sofort tun. Gem hielt das tropfende Ding in beiden Händen mit ausgestreckten Armen vor sich und schluchzte. Als
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