Beutewelt 01 - Bürger 1-564398B-278843
Frank manchmal regelrecht faszinierend und so hörte er kaum hin, wenn die sanfte Stimme der Umerzie- hung aus dem Lautsprecher ihm erklärte, warum die alte Ordnung der Welt falsch war und die neue Ordnung ohne Ausnahme richtig.
Als der fünfte Monat anbrach, wurde Frank auf einmal gesprächig. Er erzählte Herrn Irrsinn bisweilen fünf oder sogar sieben Stunden am Stück alle möglichen Dinge. Er hielt Reden, die den Anweisungen der Umerziehungsstunden sehr ähnlich waren. Er hatte sich vorgenommen, Herrn Irrsinn, immerhin eine bedeutende Persönlichkeit, die auch bei vielen anderen Menschen häufig zu Gast war, umzuerziehen.
Er predigte ihm die wichtigsten Aspekte jeder aktuellen Umerziehungsstunde, rezitierte sie, brüllte sie und schlug und trat manchmal auf Herrn Irrsinn ein, wenn dieser ihn nicht interessiert genug ansah. Und obwohl er diesen Herrn in der Ecke, der auch manchmal auf seiner Pritsche saß, eigentlich als seinen Zellengenossen und Freund ansah, musste er ihm auch gelegentlich einmal weh tun, damit er lernte. So hatte Patient 111-F-47 in Herrn Irrsinns Ecke nach dem fünften Monat ein beachtlich tiefes Loch in die Wand getreten — diesen aber leider nie getroffen.
Als noch ein weiterer Monat verstrichen war, hatte Frank es aufgegeben, Herrn Irrsinn zu überzeugen, auch ein braver Bürger des neuen Weltstaates zu werden. Jetzt versuchte er, sich vor allem jedes einzelne Wort der Umerziehungsstunden zu merken und oft konnte er die ersten zwei oder drei Minuten komplett auswendig nachplappern. Er schrie, sang und heulte die Phrasen aus dem Lautsprecher nach wie ein Papagei.
Die Notwendigkeit der Registrierung der Erdbevölkerung, die Pflicht des Gehorchens, die Selbstregulierung der Ökonomie, die Unabwendbarkeit einer Gesellschaft ohne Geschlechter, Völker und Rassen, die Regel von der Auflösung aller Kulturen und Religionen, das Gebot der Unmenschlichkeit als Grundlage einer neuen Menschlichkeit. Sein Gedächtnis erwies sich, obwohl vom Pilz des Wahnsinns schon stark befallen, als erstaunlich gut. Frank sah sich als Lernender und mit blutunterlaufenden, kochenden Augäpfeln schrie er manchmal „Jawohl, so ist es!“, wenn der Lautsprecher zu ihm sprach.
Mittlerweile war ein halbes Jahr vergangen und Patient 111-F-47 hatte viele Möglichkeiten entwickelt, die Stunden und Tage tot zu schlagen. Sogar einen eigenen Tagesplan hatte er im Geiste aufgestellt:
- Essen
- Möglichst viele Wörter aus der Umerziehungsstunde auswendig lernen
- Herrn Irrsinn diese erklären (aber nur, wenn er zuhörte)
- Die Fasern der weißen Tapete genauer untersuchen
- Das Zimmer nach Staub absuchen
- Mittagessen
- Sich mit Herrn Irrsinn streiten
Franks Essenrationen kamen dreimal täglich durch eine Klappe an der Wand. Man hatte freundlicherweise darauf geachtet, dass er seine Holozelle auch für den Zweck der Nahrungsaufnahme niemals verlassen musste.
Nach weiteren zwei Monaten sahen die Überwachungskameras von „Big Eye“, die jede Zelle im gesamten Gefängniskomplex fest im Blick hatten und auch den Raum 47 im Block F ständig scannten, nur noch einen Menschen, der die meiste Zeit des Tages wie tot mit dem Gesicht nach unten auf seiner Pritsche lag Frank Kohlhaas, der Patient 111-F-47, schien sich in eine beängstigende Lethargie ergeben zu haben und wünschte sich wohl nichts sehnlicher, als das Aussetzen seines Herzens. So wirkte es jedenfalls. Die Behandlung hatte ihn innerlich zerbrochen und selbst das irrationale Verhalten und die emotionalen Ausbrüche, die ihn bis dahin, unter der freundlichen Leitung des Herrn Irrsinn, noch irgendwie auf den Beinen gehalten hatten, waren nicht mehr zu sehen.
Über acht Monate Holozelle hatten seinen Verstand so stark zerfressen, dass sich auch sein Körper zu weigern schien, die Tortur noch weiter mitzumachen. Das grelle, bösartige Licht, das ihn 14 Stunden am Tag quälte, hatte seinen Henkersdienst fast getan, ebenso die undurchdringliche Dunkelheit der künstlichen Nächte. Die Holozelle 47 im Block F, diese Höllenkammer ohne Fenster, nur mit Pritsche, Toilette und Essensklappe in der weißen Wand, hatte den Verurteilten dann doch geschafft. Nicht einmal Franks einziger Freund, der stumm grinsende Herr Irrsinn, hatte es ausgehalten — denn er war weg.
Am 21.03.2028 wurde das Licht wieder einmal um 22.00 Uhr abends von der computergesteuerten Anlage von „Big Eye“ abgeschaltet. Der halb ohnmächtige Frank Kohlhaas, der irgendwo in seiner Zelle mit
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