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Bevor Alles Verschwindet

Bevor Alles Verschwindet

Titel: Bevor Alles Verschwindet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Scheffel
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ist: »Es tut mir leid, so leid!«
    Wenn er Clara ruft, muss sie den Krankenwagen holen, sie trägt dann die Verantwortung, und Davids Körper fühlt sich
nicht so an, als wäre es mit einmal Desinfizieren und Verbinden getan. Wenn sie ihn ins Krankenhaus bringen, ist er für immer weg, sein Vater wird ihn hassen, weil David ihn in diesen letzten Tagen im Stich gelassen hat.
    »Deine Mutter kommt!«, hat Wacho gerufen. »Deine Mutter kommt und findet uns, und dann wird alles, David, einfach alles wird wieder gut. So lange musst du dich benehmen, reiß dich zusammen.« Wacho hat versucht, David zu umarmen, wie immer hat er sich nicht getraut: »Mein Junge.« Ratlos hat er auf David heruntergeschaut, hat den zerstörten Schrank betrachtet, das zersplitterte Bett, der Schreibtisch hing irgendwo zwischen erstem und zweitem Stock, und dort hängt er wahrscheinlich noch jetzt. »Soll ich dich zum Essen rufen?«, hat Wacho gefragt, und David hat den Kopf geschüttelt. »Gut, dann bis später.«
    Wacho ist gegangen und David hat angefangen zu warten. Zum Beispiel darauf, dass Milo ihm sagt, was er tun soll. David stellt sich vor, wie Milo seinen Platz auf der Treppe verlässt, wie er wieder lebendig wird, wie er zu ihm kommt und sagt, dass alles in Ordnung sei. Aber Milo lügt nicht und er kommt auch nicht her. Milo sitzt versteinert auf der Treppe und wartet auf David, darauf, dass der sich bewegt und mit ihm verschwindet. Vielleicht weiß er tatsächlich nicht, dass das nicht geht, dass David hier sein muss, bis auch Wacho aufgibt, bis sie irgendwo neu anfangen und dann so weitermachen wie bisher. Peru, Ägypten, Tibet, der Stofffetzen in seiner Hand. Er bleibt, er muss. Wenn David an Milo denkt, hat er seit kurzem das Bild aus dem Keller vor Augen, das stumme Porträt eines Bürgermeistersohnes, aus vergangenen Tagen und längst verstorben, und wie der da sitzt neben einem Löwen ohne Kopf.
     
    Sie traut sich auch nachts hinaus, wenn die anderen schlafen. Marie hat keine Angst mehr vor Monstern unterm Bett. In der
Nacht kann sie am besten erforschen, was tagsüber unsichtbar bleibt. Sie kann dann in Gebiete vordringen, die ihr die Eltern verbieten. Der Schädel kommt immer mit, er trägt nachts einen alten Hut, den hat Marie aus Roberts Requisite, den vermisst er nicht.
    Marie zieht sich an, Cordhose, T-Shirt und Lieblingspullover, den mit der rosa Maus, da hat Clara einmal versucht zu stricken. Aus der Küche holt sie sich ein Paket Apfelsaft und drei Zwieback, unterwegs hat sie nie Hunger, aber Proviant gehört dazu. Ihre Eltern wachen nicht auf, Marie hört Robert schnarchen bis in den Flur. Sie tritt auf die Straße, jetzt eher ein Feldweg, sie gefällt ihr so besser, sie verspricht Abenteuer und Gefahr.
    Mit dem Schädel im Arm geht Marie den Weg hinauf, im Rücken liegt der Hauptplatz, liegen die Reste der Linde, auf dem Boden das Schild vom Tore, irgendwann wird es jemand mitnehmen, als Erinnerung, aber erst am Ende. Auf dem Hauptplatz hat Marie viele Nächte verbracht, sie hat bei Milo gesessen, auf den Platz geschaut, dem Löwen über den kopflosen Hals gestreichelt und über die rissige Wunde. Mit Milo kann man gut sitzen, er fragt nichts und sagt nichts. Mit Milo fühlt Marie sich wie eine Wächterin. Was sie bewachen, weiß sie nicht, aber dass es wichtig ist, merkt sie. Am Anfang hat sie sich noch gewünscht, Milo würde weggehen zusammen mit David, aber jede Nacht sitzt er da, wie auch heute, heute besucht sie ihn nicht.
    Sie will zu dem Haus im verschwundenen Wald. Ein verschwundener Wald ist in Ordnung für Marie, die ja grundsätzlich beschlossen hat, keine Wälder mehr zu mögen. Greta hat ihr erzählt, dort gebe es noch einen zweiten Löwen, der seinen Kopf noch hat, der schläft, und auf den ist Marie gespannt, den will sie treffen, bevor sie ihn ins Museum stecken, bevor sie auch ihm den Kopf abreißen.
    Der Schädel hat auch Lust, den Löwen zu begutachten,
aber er hat auch ein wenig Angst vor der Dunkelheit. Marie beruhigt ihn. »Da vorn«, sagt sie, »da hängt der Mond.« Der Mond hängt tatsächlich, und zwar an einem übriggeblieben Ast, der in den Wolken steckt. Bis an die Wolken kommen sie nicht mit ihren Geräten, nicht einmal mit dem Kran, und der ist ein Riese. Marie kann den Löwen schon heulen hören. Anscheinend ist er aufgewacht und er heult wie ein Wolf. Marie kennt sich aus, sie weiß, dass Löwen anders klingen als Wölfe.
    »Vielleicht hat der Löwe vergessen, dass er ein Löwe

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