Bevor Alles Verschwindet
Freunde mitspielen dürfen«, sagt der Junge, und jetzt kommen von überallher Kinder auf Marie zu, sie sind älter und jünger und genauso alt wie sie.
»So viele«, sagt Marie, »so viele waren wir hier noch nie.«
»Ich suche«, sagt der Junge, und Marie schleicht sich weg, zu dem Haus, und versteckt sich gut zwischen Fuß- und Dachbo
den, sie ist die letzte, die der Junge findet. Sie spielen, bis der Mond an seinem unsichtbaren Seil herabfährt, ins Meer gelassen, in den Bergen versenkt, oder bis die Erde sich weiterdreht und sich das Licht zurückholt. Dann sagen die Kinder, dass sie ins Bett müssen, und Marie versteht das gut. Sie muss auch schnell ins Bett, und zwar bevor die Sonne aufgegangen ist, bevor ihre Eltern aufwachen und merken, dass Marie ihre eigenen Geheimnisse hat.
Marie geht nach Hause, über den Platz, hebt die Hand grüßend zu Milo, wie sie es sich von Robert abgeschaut hat, sie schleicht sich ins Badezimmer. Sie wäscht sich die Erde von den Füßen, am Dreck werden abenteuerlustige Kinder in Büchern immer erkannt, aber den Fehler macht Marie nicht. Dann legt sie sich ins Bett, stellt sich schlafend und denkt an das, was der Junge ihr zugeflüstert hat, als er sie beim Versteckspiel im verschwundenen Wald im Haus fand. »Lass das Schönste hier«, hat er gesagt und Marie weiß noch nicht genau, was er damit meint. Sie schläft wieder ein, und vorher noch hört sie Schritte auf dem Dielenboden. Das ist Clara, die sie wecken will, das sind die Tatzen des blauen Fuchses, das ist Maries eigene Welt.
Jules hat seit Jahren nicht mehr gespielt, das Saxophon ist ihm gar nicht mehr aufgefallen, es war zu einem unbeweglichen Teil seines Zimmers geworden. Erst als er seine Sachen zusammenpacken musste und das Saxophon beinahe mit dem Haus zu Boden gegangen wäre, hat er sich daran erinnert und es vorsichtig in dem abgestoßenen Kasten verstaut. Jeremias hatte ihm für jedes Konzert einen Aufkleber gegeben, und irgendwann sah der Kasten wie der Koffer eines Weltreisenden aus.
Jules spielt ein paar Stücke, will wieder aufhören, es klingt nicht mehr so wie früher, aber dann klopft Greta an die blaue Tür und Jules lässt sie hinein. Greta wünscht sich, dass er wei
terspielt, und weil Jules in der letzten Zeit das Gefühl hat, Greta würde etwas fehlen, tut er ihr den Gefallen und spielt ein Schlaflied, das Eleni früher gesungen hat und das Greta gut kennt, Eleni hat es auch in jener Nacht auf dem Friedhof gesummt.
»Darf ich singen?«, fragt Greta. »Ich kann zwar nicht gut singen, aber ich hätte große Lust.«
»Klar«, sagt Jules, und Greta singt alle Strophen des Schlaflieds, auch die, die Jules nicht kennt, weil sie nicht vom Schlafen handeln, sondern vom Sterben. Eleni hat diese Strophen damals ausgelassen, wenn sie abends am Hochbett der Zwillinge saß. Sie hat sie ihnen verheimlicht und Jules wünschte, Greta hätte das auch getan.
»Noch mal«, sagt Greta und Jules spielt noch einmal, obwohl hier kein Wald mehr steht und schweigt, obwohl aus den Wiesen kein Nebel mehr steigen kann, weil es keine Wiesen mehr gibt, nur die Angst davor, die Augen zu schließen, weil sie an nichts mehr glauben können und sich ihrer selbst nicht sicher sind.
Jules hat den geheimen Brief des Friedhofsamtes für seine Mutter, und Jula und er haben den Plan und an den halten sie sich, bei dem bleibt es, auch wenn sonst nichts geblieben ist zwischen ihnen. Obwohl sie ihn mit diesem behelmten Vogel betrügt. Jules spielt das Lied für Greta. Er spielt es ein drittes, ein viertes und ein fünftes Mal, obwohl seine Lunge brennt und sein Oberarm zittert und das mit der Atmung nicht so funktioniert, wie es soll. Jules möchte etwas Gutes tun, nicht für sich, nicht für Jula, sondern für Greta und auch für David.
»Noch einmal?«, fragt Greta, und Jules spielt bis in den ersten Morgensonnenschein das traurige Lied vom Schlafen und Sterben.
»Das ist es!«, ruft Marie beim Frühstück und springt vom Tisch auf. Als sie aus dem Haus läuft, halten Clara und Robert
sie nicht zurück, Marie soll in den letzten Wochen alle Freiheiten haben, und solange sie um acht im Bett liegt, verläuft die Freiheit in geregelten Bahnen.
»Wie geht es voran mit dem Stück?«, fragt Clara.
»Gut, und wie geht es der Praxis?«, fragt Robert.
»Auch gut«, sagt Clara, und sie beginnen, den Tisch abzuräumen.
»Wenn er das Lied noch mal spielt, bringe ich ihn um.«
»Bitte nicht«, sagt Eleni. Sie und Jula kneten den
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