Bevor Alles Verschwindet
Salamanderhaus in die Knie, im Rathaus brüllt Wacho, nur David hört man nicht, David kann man schon lange nicht mehr hören.
»Marie«, sagt Robert, er flüstert durch Maries Finger hindurch, die sie sich an die Ohren presst. »Marie, bald sind wir hier weg.« Marie nickt und starrt aufs Salamanderhaus. Dieser Abriss ist anders als bei den Häusern zuvor. Die haben die Gelbhelme Stück für Stück abgetragen. Man hatte sich an ihr baldiges Verschwinden gewöhnen können, und als sie dann weg waren, hatte man längst vergessen, wie es war, als es sie noch gegeben hat.
Das Salamanderhaus bricht in sich zusammen wie der Hirsch neulich, in der Sendung über die Erhaltung des Waldes. Ein Schuss, ein Zucken und Straucheln, und dann lag er am Boden und war weg. Marie hat geweint über den Film, sie hat beschlossen, den Wald nicht mehr zu mögen. Marie weint auch jetzt, sie mag keine Seen mehr und keine notwendigen Maßnahmen und keine Menschen, die nur stehen und gucken, und sie hat auch was gegen das Gemeinwohl.
»Schhh, Marie«, macht Robert und nimmt sie auf den Arm. Er streicht seiner Tochter die Tränen weg und dem Schädel unter den Augenhöhlen entlang. »Ist ja gut, lieber Schädel, nicht weinen.« Aber der Schädel heult weiter, in die Stille hinein, mit Staub in den Augen und dem Blick auf das verendete Haus. »Schhhhh«, macht Robert. Immer wieder »Schhhhh«. Aber manchmal hilft das nichts.
Robert spürt Maries Herzschlag unter der Hand, er hat lange nicht mehr so genau gewusst, dass sie das Wichtigste ist, wichtiger als all die Sachen, die hier um ihn herum geschehen, um die er sich sorgt, für die er Verantwortung übernehmen möchte, an denen er sich stößt, die er thematisieren und der Weltöffentlichkeit unter die Nase reiben will. Er hat was vergessen, zwischenzeitlich, das kann mal passieren. Aber jetzt ist er wieder da und hält seine heulende Tochter und ihren zu
tiefst verunsicherten Totenschädel ganz fest. Was für ein Bild, denkt Robert. Er dreht sich weg von den anderen und schiebt seinen Rücken vor das Kameraobjektiv. Er produziert Unschärfe für die Ewigkeit.
»Das reicht«, sagt Robert. »Das reicht jetzt.« Dann trägt er Marie fort von den Gelbhelmen, von den Hausresten, die aufgeplatzte Straße hinauf bis nach Hause. Sie selbst sind als Nächstes dran, aber noch nicht jetzt, jetzt noch nicht. Jetzt kann er noch die Tür hinter sich schließen, er kann Marie in ihr Zimmer bringen, sie auf's Bett legen, den Schädel neben ihren Kopf, er kann das Piratenmobile anstoßen, kann sagen: »Ich bin nebenan.«
Robert geht in die Küche, nimmt die Milch aus dem Kühlschrank, der Strom ist schon wieder ausgefallen. Er riecht an der Milch: ist noch gut. Er kippt sie in den roten Topf mit den weißen Punkten, rührt viel zu viel Kakaopulver hinein, stellt das Gas an und wartet. Er öffnet das Fenster, vernimmt ein leises Murmeln in der Ferne, die plötzlich gar nicht mehr so weit weg ist. Kein Donnern mehr, keine aufgeregten Stimmen, kein Geräusch von Wacho, der seinem Sohn den Fluchtversuch aus dem Leib prügelt. Robert nimmt den Tabak aus seiner Hosentasche, er dreht sich eine Zigarette, steckt sie an und schaut hinaus.
»Drehst du mir auch eine?«, fragt Clara.
»Wir haben Kakao«, sagt Robert.
»Auch gut«, sagt Clara. »Marie schläft schon.«
»Komm her«, sagt Robert. »Komm mal zu mir.«
»Tja«, sagt Eleni. »Das wär's dann wohl.«
»Ist doch krass«, sagt Jula und wirft Jules einen schnellen Blick zu.
»Kann sein«, sagt Jules. »Was soll's.«
»Was wollt ihr jetzt machen, ins neue Haus oder hierbleiben?«, fragt Eleni.
»Können wir Ihnen ein paar Fragen stellen?«, fragt der Reporter.
»Nein«, sagt Eleni. »Ich kann Ihnen nichts beantworten. Sie dürfen die Trümmer filmen, wenn Sie wollen, aber uns nicht.«
»Schade«, sagt der Reporter und zu dem Kameramann: »Film die Steine und die Katze dort im Schutt.«
»Kommt«, sagt Eleni zu den Zwillingen, »hier müssen wir nicht rumstehen.«
»Wo sollen wir sonst rumstehen?«, fragt Jula.
»Fahren wir zu Papa?«, fragt Jules.
»Wenn ihr schon wollt«, sagt Eleni. »Ich würde auch noch bis zum Jahrhundertfest warten.«
»Der Plan«, flüstert Jula ihrem Bruder zu. »Denk an den Plan. Wir ziehen das durch, ich hab den Zettel in der Tasche. Du hast es versprochen.«
»Na gut«, sagt Jules. »Bleiben wir.« Es ist sehr ruhig geworden. Von dem provisorischen Parkplatz her blitzen die Autoscheiben der Auswärtigen. Das
Weitere Kostenlose Bücher