Bevor Alles Verschwindet
selbst mittlerweile schon ganz schrecklich verbunden. Der Bürgermeister tut ihnen leid, mit seinem ganz offensichtlichen Alkoholproblem und mit dem träumenden Sohn, der eigentlich viel zu alt ist, um seinem Vater einen derartigen Schreck einzujagen.
»Was da fast passiert wäre«, sagt der Reporter.
»Ja«, sagt der Kameramann, »stell dir vor.« Sie beobachten, wie Wacho David hinter sich herzieht, der ist verschlafen und lässt den Kopf hängen, er sieht aus wie eine übertrieben große verhedderte Marionette. Sie filmen, wie ein Verantwortlicher Wacho anspricht.
»Solche Aktionen sind überflüssig«, sagt der Verantwortliche.
»Das war keine Aktion«, brummt Wacho. Der Kameramann fokussiert dabei erst ihn, dann hält er auf David, der schaut ins Nirgendwo, der drückt irgendetwas fest, und als
der Kameramann mehrfach verstärkt auf die Faust zoomt, erkennt er, dass das in der Hand ein buntes Stück Stoff ist, der Fetzen einer tibetischen Gebetsfahne.
»Folg ihnen bis zum Haus«, flüstert der Reporter dem Kameramann zu. Der hält weiter drauf, aber sein Schlussbild, das hat er schon.
Während die anderen beobachten, wie ein Verantwortlicher alles noch einmal prüft, nach der Sache mit David sind sie sehr besorgt, so etwas hätte nicht passieren dürfen, hockt Marie sich zu dem Fuchs auf den Boden. Der blaue Fuchs mag Marie am allerliebsten, das steht fest. Manchmal sitzt er auch bei Milo, unten an der Treppe, aber dann ist Marie schon im Bett und winkt ihm vom Fenster aus zu. Die meisten anderen sagen, sie würden den Fuchs nicht sehen, und Papa tut so, als würde er ihn sehen, aber er guckt immer in die falsche Richtung. Irgendwann hat Marie beschlossen damit aufzuhören, über den Fuchs zu reden. So nah wie jetzt war sie noch nie bei ihm.
Marie kennt sich mit Tollwut aus, sie weiß, dass man nichts streicheln darf, was eigentlich scheu und plötzlich ganz zutraulich ist. Aber Marie beobachtet den Fuchs seit Wochen, der ist nicht tollwütig. Der blaue Fuchs ist einfach nur anders, ein bisschen an der Welt vorbeigeschoben und daher genau richtig für Marie. »Hallo«, sagt sie und streckt die Hand aus. Der Fuchs schnüffelt an ihren Fingern, Marie hat sich die Nägel vorhin mit Wasserfarben bemalt, so gut wie Nagellack hält das nicht, aber immerhin gibt's so ein bisschen Farbe, wo die Blumen fehlen und jedes Grün, das der Mai sonst präsentiert. Nur da, wo früher Monas Haus stand, blüht ein Vergissmeinnichtteppich. Sich in den hineinzulegen, das ist etwas, was Marie unbedingt noch erledigen muss. Aber erst mal muss sie sich um den Fuchs kümmern, der wartet schon viel zu lange auf sie.
»Keine Angst«, sagt Marie. »Das ist nur ein Haus. Das ist
schon alt. Wenn man alt ist, verschwindet man irgendwann.« Marie sieht zu Greta, sie hat ein schlechtes Gewissen und ein dummes Gefühl. Dass Greta verschwindet, das will sie nicht. »Es ist aber trotzdem heikel«, sagt Marie. »Heikel, zu verschwinden.« Der Fuchs ist beeindruckt von Maries neuem Wort. »Wir können nachher zur Staumauer gehen«, sagt sie. Aber da will der Fuchs nicht hin. »Oder zu dem weggeräumten Haus.« Das schon eher.
»Gleich knallt es«, sagt Marie und: »Guck mal, mein Papa. Der probt an einem Stück, das wahrscheinlich nie aufgeführt wird. Und da ist meine Mutter, die ist Ärztin so wie ich, nur in echt.«
»Marie«, ruft Clara, »Marie, komm mal her.«
»Bis dann«, sagt Marie zum Fuchs, dann läuft sie zu ihrer Mutter.
»Guck mal, Marie, gleich geht es los.«
»Hörst du Wacho?«, fragt Marie.
»Hör da nicht hin.«
»Vielleicht braucht David dich gleich«, sagt Marie. »Vielleicht gehen wir besser bei ihm vorbei.«
»Guck mal, Marie, jetzt drückt er gleich auf den roten Knopf. Halt dir die Ohren zu, das wird ziemlich laut.« Und Marie hält sich die Ohren zu, schaut zu den Salamanders hinüber, die wirken sehr konzentriert, so als müssten sie aufpassen, dass alles richtig und ordentlich in sich zusammenstürzt.
Aus dem Rathaus hört Marie das Poltern, trotz der Hände auf den Ohren. Ab und zu sieht sich jemand verstohlen um und sieht zum Rathaus hinüber. Die Erwachsenen achten darauf, dass ihre Blicke sich dabei nicht treffen, denn wenn sich Blicke treffen, dann werden Sachen wahr. Marie versucht, Robert in die Augen zu sehen, Greta, Clara. Niemand erwidert ihren Blick, nur Milo auf der Treppe, aber der kann genauso wenig tun wie sie, da kann sogar der Fuchs mehr, der
kann immerhin beißen. Krachend geht das
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