Bevor Alles Verschwindet
Spektakel ist vorbei, es ist Zeit fürs Abendbrot, das wird zu Hause gegessen, auch wenn es nicht mehr das eigene ist.
»Ich weiß nicht, ob ich da wohnen möchte«, sagt Jula.
»Das geht schon«, sagt Eleni. »Jeder macht seinen eigenen Kram und es ist das einzige Haus, das bis zum Fest stehen bleibt. Das haben sie uns versprochen.«
Über den Hauptplatz gehen sie aufs Rathaus zu, der Staub brennt in den Augen. Es hat schon lange nicht mehr geregnet, und das Pflaster wurde bereits entfernt. Daran, wie es hier vor weniger als einem halben Jahr ausgesehen hat, erinnern nur noch die Reste der Linde. Und sie selbst, sie sind jetzt Geschichte. Auch von ihnen wird man bald nur noch in der Vergangenheitsform reden.
Der Löwe hat einen Riss an der Pranke, immer noch fehlt ihm der Kopf, auf dem Riss liegt Milos Hand. Stumm gehen
die Salamanders an ihm vorbei, steigen die weiße Treppe hinauf, die weiße Treppe ist grau, aber das fällt niemandem auf, die Töne haben sich einheitlich verschoben, der Ort ist in der Farbskala ein paar Felder weiter ins Blasse gerutscht und seine Bewohner ein Stück fort in die Stille.
»Nimm den Türklopfer«, sagt Eleni. »Das Licht ist aus, der Strom ist mal wieder weg.« Jula klopft dreimal, es klingt, als wäre das Rathaus verlassen, ein altes Gemäuer, eine steinerne Burg.
»Kommt rein, es ist alles bereit«, sagt Wacho lächelnd, als er ihnen die Tür öffnet.
Das Haus verschluckt die Salamanders, verschluckt sie so vollkommen, dass Eleni vergisst, ihren Sohn noch einmal nach dem Brief zu fragen. Hinter ihnen fällt die Tür ins Schloss. Das Rathaus hat an Größe gewonnen, der Löwe streckt sich, es ist Zeit für seinen Gang, er erhebt sich. Wo er eben noch lag, ist jetzt ein Loch. Milos Hand umklammert den Mörtel. Der Abend kommt, jetzt dauert es nicht mehr lange, dann ist es überstanden, dann geht es weiter, anderswo und vielleicht besser. Zwei Häuser noch, Wacholder und Schnee, und am Rande warten die Toten auf den Beton.
Es gibt keinen Schreibtisch mehr, keinen Schrank, keinen Stuhl, die Matratze lehnt an der Wand. Davids Zimmer ist nur noch ein Raum, er selbst ein Rest, der Boden ist gut, er ist aus Holz und von der Sonne gewärmt. Unter sich kann er die anderen hören, wahrscheinlich sitzen sie beim Abendbrot. Es wird Gulasch aus der Dose geben, wie schon seit Tagen. Die Ravioli sind genauso alle wie die eingelegten Birnenviertel aus Gretas Vorräten und die Gewürzgurken und das eingeschweißte Schwarzbrot. Es gibt nur noch Gulasch. Wenn sie zu fünft sind, ihn selbst nicht mitgezählt, reicht das vielleicht noch für eine Woche, bis zum Jahrhundertfest aber auf keinen Fall.
Wacho muss außerhalb einkaufen, oder einer der Salaman
ders übernimmt das oder Greta, wahrscheinlich schicken sie Jules, der kennt sich da draußen am besten aus. David selbst hat damit nichts mehr zu tun, ihn wird man nicht schicken. David könnte sich bewegen, wenigstens bis zu der Matratze an der Wand, er könnte versuchen sie umzukippen und sich drauflegen, für die Nacht wäre das besser, aber er rührt sich nicht.
Unten diskutiert Jula mit Eleni, und Wacho erzählt fröhlich von früher, wahrscheinlich zeigt er in Richtung Kühlschrank, an dem immer noch Davids Zeichnungen hängen:
»Ratet mal, was das sein soll.« Sie raten nicht. Wacho wartet noch einen Moment und dann erzählt er, dass David die Bilder gemalt hat, als sie an ebendiesem Tisch, an dem sie jetzt sitzen, jeden Freitag im Frühling und Sommer bei offenem Fenster gepokert haben. »Wir hätten den Tisch rausstellen können, wir haben ja den Garten, aber aus irgendeinem Grund hat uns das mit dem offenen Fenster besser gefallen.« In der Küche lachen nur Wacho und Eleni. Von Jules und Greta hört David nichts, und auch Jula ist still. »Na ja«, sagt Wacho. »So war das früher.«
David tastet mit der rechten Hand vorsichtig nach seinem linken Arm. Der ist gebrochen, da steht was ab. Er könnte Clara rufen, sie würde kommen, auf jeden Fall. David sieht zum Fenster, Wacho hat es geöffnet, vorhin. »Es ist mir egal, ob es alle hören«, hat er gesagt, »das ist eine Warnung, an jeden, der geht.« Wacho hat ihn heulend geschlagen, wie immer heulend und mit tausend Mal »Es tut mir so leid!«.
»Ist schon in Ordnung«, David hat sich fest auf die Zunge gebissen, er hat sich nicht gewehrt, wie immer hat er stillgehalten. Er hat nur ein einziges Mal geschrien, als Wacho den Schrank umgestoßen hat und der auf Davids Arm gefallen
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