Bevor Alles Verschwindet
ist«, sagt Marie zum Schädel. »So wie Papa und Mama manchmal vergessen, dass sie Mama und Papa sind.« Der Schädel kann sich das auch gut vorstellen, aber er warnt Marie:
»Ein Löwe, der klingt wie ein Wolf, das ist nichts.«
»Das ist aufregend«, sagt Marie. »Und das ist auf jeden Fall was.« Der Schädel verstummt, Marie hat hier das Sagen. Da vorn leuchtet das Gelb der Maschinen, da muss die Lichtung sein, die längst nicht mehr von Bäumen umstellt wird. Wo noch Gras übrig ist, ist es braun, über den Resten funkeln die Sterne, die Traufe singt wilde Lieder vom Widerstand.
»Das ist schön«, sagt Marie. »Das ist richtig schön. Schön und heikel, Schädel.«
Der Mondschein bricht sich am Rande der Lichtung an einer Gestalt. Da steht jemand, einer, den Marie noch nicht kennt.
»Hallo«, ruft Marie und bekommt keine Antwort. »Ich bin Marie Schnee, wer sind Sie?«
»Niemand«, sagt die Person, sie sagt es leise, aber Marie kann es trotzdem verstehen.
»Das kann nicht sein«, sagt Marie. »Ich sehe Sie ja, niemanden sieht man nicht.« Die Person tritt vor, löst sich aus dem Schatten des großen Baggers, die Person kommt auf Marie zu. Marie denkt erst, es ist Paul, aber das kann ja nicht sein,
Paul liegt im neuen Ort in seinem neuen Bett, Paul hat jetzt eine Astronautenwand und eine richtig große Ritterburg im neuen Garten und Paul hat Marie diese Woche noch nicht geschrieben, obwohl er versprochen hatte, es zu tun, jede Woche, notfalls für immer, auf jeden Fall, bis sie sich wiedersehen.
Vor Marie steht also ein Junge, der nicht Paul sein kann und nicht Leon, weil der im Krankenhaus liegt in einer fernen Stadt, weil Leon den Blinddarm rausbekommen hat und man da erst mal liegen muss, aber nur ganz selten dran stirbt, Marie hat ihre Mutter gefragt. Der fremde Junge ist ungefähr so alt wie Marie, vielleicht ein paar Zentimeter kleiner. Neben dem Jungen steht der zweite Löwe, und Marie fürchtet sich, zeigt es aber nicht. »Angst zeigen ist ungeschickt«, sagt Clara immer. »Wenn man Angst zeigt, dann verbreitet sie sich und wird immer größer und größer.« Marie glaubt Clara das, weil sie es beobachten konnte an Wacho, der Angst hat und der David Angst macht, Marie kann beobachten, wie die Angst durch das Rathaus kriecht, zu Eleni und den Zwillingen, zu Greta und bis zu Marie. Ihre Eltern haben eine andere Angst, hinter die ist Marie noch nicht ganz gekommen. Robert hat Angst, nicht wichtig genug zu sein, und Clara hat Angst, man könne über sie lachen, aber das ist noch nicht alles, weiß Marie. Marie zeigt ihre Angst nicht, aber sie fragt nach:
»Beißt der?«
»Nein«, sagt der Junge. »Der ist eigentlich aus Stein, Steine beißen nicht, sie stehen 'rum.«
»Oder sie sitzen«, sagt Marie. »Wie Tote.« Der Junge erschrickt nicht über dieses Wort, das Marie zum ersten Mal in ihrem Leben ausgesprochen hat und von dem sie nicht ganz genau weiß, was es bedeutet. Totsein heißt Wegsein, vielleicht. Totsein heißt nicht mehr atmen und nichts mehr wollen. Totsein ist das Seltsamste, was Marie sich nicht vorstellen kann, und der Junge lacht.
»Oder sie laufen ein bisschen durch die Gegend, die Steinlöwen und Steinmenschen«, sagt er.
»Kennst du schon den Fuchs?«, fragt Marie und will dem Jungen den Fuchs zeigen, weil der Junge schließlich einen Löwen hat.
»Ja«, sagt der Junge. »Der Fuchs ist blau.« Marie nickt. Der Fuchs ist blau und zurzeit unsichtbar, da oben hängt noch immer der Mond, schaukelt im Wind leicht hin und her, aber im Mondschein gibt es vom Fuchs keine Spur; nur Junge und Löwe, die werfen lange Schatten.
»Der Fuchs beißt manchmal die Gelbhelme, er kann einfach nicht anders.« Der Junge sagt nichts. »Was machst du denn hier?«, fragt Marie.
»Gucken«, sagt der Junge, »was passiert.«
»Ich auch«, sagt Marie. »Aber du bist nicht von hier, oder?«
»Ich weiß es nicht«, sagt der Junge, »es ist so anders.«
»Das stimmt«, sagt Marie. »Alles wird hier jetzt anders und bald sind wir weg.«
»Aber ich bin denselben Weg wie immer gegangen«, sagt der Junge. »Also muss ich hier ja richtig sein.«
»Bist du bestimmt«, sagt Marie, sie möchte ihn nicht beunruhigen. Eine Weile stehen sie stumm voreinander. Marie mustert den Jungen genau und entscheidet dann, dass sie ihn mag. Jedenfalls genug, um mit ihm zu spielen. Er sieht aus wie jemand, mit dem man spielen kann, wie jemand, der schnell läuft.
»Spielen wir Verstecken?«, fragt Marie.
»Wenn meine
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