Bevor Alles Verschwindet
Archäologin. Sie muss vierhunderzwölf Meter tief graben, das ist ihr ganz klar und das hier ist wichtiger als alles andere. Wichtiger sogar, als Clara in die Praxis zu folgen, wegen des beißenden Fuchses. Marie hat kein Maßband, aber vierhundertzwölf Meter müssen sich sehr tief anfühlen, und nachdem sie so lange gegraben hat, wie sich eine Stunde anfühlt, und ihr sehr warm geworden ist, beschließt sie, dass es genug sei. Marie nimmt das Schönste, was sie besitzt, aus ihrem Schulranzen, den hat sie bei einem Preisausschreiben gewonnen, und Clara hat gesagt: »Na, dann bist du ja jetzt ausgerüstet.« Marie hat gehofft, das würde bedeuten, sie dürfe nun endlich in die Schule gehen, aber der Ranzen ist schon mehr als zwei Jahre alt und Marie ist immer noch nicht eingeschult. Aber bald, ganz bald.
Sie steht an den Wurzeln der Linde. Der Stamm ist weg, die Künstlerin hat ihn holen lassen, Greta sagt, die habe sie nicht mehr alle. Robert sagt, die mache daraus Kunst. Marie versteht nicht, wie man aus einem toten Baum Kunst machen kann, Kunst macht man aus lebendigen Menschen, aus Maries Papa. Einmal streicht sie noch über den Schädel, gibt ihm einen Kuss und dann schickt sie ihren Wunsch an den, der dafür zuständig ist.
»Sorg für mindestens ein Wunder«, sagt Marie zum Schädel. »Wer was will, der muss Opfer bringen, sagt Mama immer, wenn sie erzählt, wie sie Ärztin geworden ist.« Marie opfert und weiß, etwas Großes wird geschehen. Sie will sich überraschen lassen, aber dass etwas passiert, ist ganz klar,
das hat der Junge in der Nacht gesagt. Der Junge, der ein bisschen so aussah wie der dicke Prinz aus Maries schönstem Bilderbuch.
»Wunder, Wunder, Wunder«, flüstert sie, weil drei eine gute Zahl ist, und in Märchen funktioniert das immer. Dann schiebt Marie die Erde mit beiden Händen zurück ins Loch, das hat sie sich von den Baggern abgeschaut, wie eine dieser Maschinen kommt sie sich vor, und sie ist mindestens ebenso stark. Sie klopft die Erde fest und legt einen Stein auf die Stelle, von der aus das Wunder geschehen wird. Den Stein hat Clara ihr gegeben, der kommt vom Meer, da war Marie noch nie, aber da fahren sie hin, wenn das alles vorbei ist. »Wenn das endlich vorbei ist, Marie«, hat Clara gesagt und dass sie dann Urlaub machen, nur sie drei. Marie steht auf und klopft sich sauber, sie wird die Stelle beobachten in den nächsten Tagen, bis in den nächsten Monat, wenn das Wasser kommt.
Marie weiß mit einem Mal, dass ihr Wunder das Ende des Weltuntergangs bedeuten wird. Am liebsten würde sie es gleich ihren Eltern erzählen. Sie möchte Robert sagen, dass es nicht schlimm ist, dass er sein Team verloren hat, und Clara, dass sie sich nicht davor fürchten muss, nie wieder Fuß zu fassen. »Niemand muss Füße fassen«, sagt Marie leise. Niemand muss das und keiner braucht ein Team, wenn er jemanden hat wie Marie, niemand muss sich mehr sorgen. Marie hat alles im Griff und das Wunder wird kommen, und zwar am Tag des Untergangs, Marie wird dann unmittelbar vor Ort sein. Das muss so sein, ohne sie geht es nicht, und genau das ist das Problem der Verantwortlichen: Dass sie niemanden haben wie Marie.
Es darf nicht sein, all diese Zerstörung, all dieses Leid. Robert lässt den Arm sinken, drückt die Play-Taste des Kassettenrecorders, vom Band dröhnt die Stimme eines Verantwortlichen. Den hat Robert heimlich aufgenommen, neulich bei
einer Begehung: »Man muss sich vor allem die Vorteile für die Region vor Augen führen, allein die Schaffung neuer Arbeitsplätze, der hohe Freizeitwert in einer strukturschwachen Region, ganz zu schweigen von der Möglichkeit, den Energiewandel voranzutreiben . . .« Robert spult weiter, er muss noch jemanden finden, der bei der Aufführung für ihn auf Play drückt. Wenn er das auch noch selbst machen soll, wird es langsam albern.
Robert verzichtet heute bei der Probe auf den gelben Helm, trägt nur das Imperatorenkostüm, es sind zu viele Busse, zu viele gucken, und die Frau da drüben, bei den Trümmern des Tore, sieht verdächtig nach Reporterin aus. Er hat in den letzten Wochen zu unterscheiden gelernt, zwischen Werbung und Vereinnahmung. Die meisten wollen aus ihm ein Objekt machen, da hätte er früher drauf kommen können, ist es aber erst gestern, beim Zusammensturz des Hauses Salamander.
Sein Team ist weg, es wird wiederkommen, so ist das nicht, Robert hat vor einiger Zeit einen Vertrag unterschrieben. Auf seiner Geschichte
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