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Bevor Alles Verschwindet

Bevor Alles Verschwindet

Titel: Bevor Alles Verschwindet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Scheffel
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stehen. Er hört, wie sie sich hinter ihm unterhalten. Sie wissen nicht, dass der Ort durchlässig geworden ist und man selbst ein Flüstern noch hören kann, aus hundert Meter Entfernung.
    »Der war aber nicht besonders freundlich.«
    »Was erwartest du?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Sieh mal, die Kleine.«
    »Was hat die denn da?«
    »Das ist doch makaber.«
    »Marie«, ruft Robert, »heute keine Gräber ausheben, bitte.«
    »Schade«, ruft Marie, und Robert geht grinsend weiter.
     
    Der Vogelmann ist für die großen Eingriffe zuständig, er fährt den Bagger, wenn Mauern wegmüssen, und räumt zur Seite, was sich nicht heben lässt. Jula trifft ihn dort, wo bis vor kurzem noch ihr Haus stand, er schiebt die Schaufel ganz vorsichtig in den Schutt, er weiß, dass Jula hier gelebt hat und dass er einiges auf's Spiel setzt, wenn er sich keine Mühe gibt. Seit er für die Fotografin den Weltenzerstörer gegeben hat, spricht Jula nicht mehr mit ihm. Er hat das für sie getan, aber das versteht sie wohl nicht.
    Zum ersten Mal ahnt Jula, dass es hier nur um kalte Steine geht, sobald die Menschen weg sind, bedeutet das alles nichts mehr. Sie machen es sich schwerer, als sie sollten. Jules und Eleni und sie selbst, sie nehmen das alles zu persönlich. Jula denkt an den Plan, wie vergeblich er ist, wie dumm, ihn Jules vorzuschlagen. Jules macht alles, was sie will, er wird auch den Plan ausführen. Es sei denn, sie überwindet sich, ihm zu gestehen, dass der Plan vollkommener Blödsinn ist und überhaupt keine gute Idee. Dass sie sich eine schöne Zeit machen sollten, bis der See kommt. Dass sie es genießen sollten, dass die Eltern sie schon seit Wochen nicht nach ihren Zukunftsplänen gefragt haben und dass sie jetzt endlich Zeit haben nachzudenken. Über diese Zukunft.
    »Hey!«, ruft der Gelbhelm ihr zu und wird wieder zu ihrem Vogelmann, der mit der Hand zur Begrüßung immer kurz an den Helm tippt. Er hat einen Sonnenbrand, die Arme unter dem Tattoo voller Sommersprossen oder Leberflecke, sie findet ihn schön. Sie war schon so verdammt nah dran an ihm, er riecht nach Waschmittel und Erde. Auf einmal kann sie sich
vorstellen, wieder bei ihm zu sein, aus einer Laune heraus, die sich Einsamkeit nennt und die Jula bisher nicht kannte. Jula kann sich beim Blick auf die Trümmer vorstellen abzuhauen, und zwar ohne Protest und ganz bestimmt ohne die Ausführung des verdammten Plans. Sie kann sich vorstellen, einfach zu gehen, wohin sie will und mit wem. Sie sieht zur Staumauer hinüber, zu den Hügeln dahinter, sie ahnt, dass dort alle Möglichkeiten liegen. Warum ist ihr das vorher nicht aufgefallen?
    Der Lärm ebbt ab, ihr Gelbhelm hat den Motor abgestellt, ein Teil des Hauses schwebt in der Luft. Er ist nicht irgendein Bauarbeiter, irgendein Gelbhelm, nicht nur der Vogelmann; er ist jemand, dessen Namen sie sich in die Schulter stechen lassen würde oder einmal rund ums Handgelenk. Die Wut ist weg, seit eben erst, und es fühlt sich nicht an wie ein Verlust.
    »Willst du mitfahren?« Das hat er sie noch nie gefragt, so weit ist er noch nicht gegangen. Er hat wohl bemerkt, dass sich gerade etwas ändert und eines der unzähligen Tabus nicht mehr existiert. Niemand beobachtet sie. Es sind nur Gelbhelme unterwegs. Da hinten Marie, aber die ist beschäftigt, auf der Treppe Milo, aber der zählt nicht. Jula nickt und er sagt: »Dann komm her.«
    Sie steigt über den Schutt, klettert zu ihm auf den Sitz. Er startet den Motor, der Bagger atmet tief ein und schiebt sich polternd über die Steine. Jula klammert sich am Sitz fest und am Vogelmann. Sie muss lachen, obwohl sie nicht lachen will. Sie versucht dagegen anzukommen, stellt sich ihre Eltern vor, damals beim Einzug, ihren Großvater, wie er zum ersten Mal die Wände tapezierte, die Großmutter, die sie nur von Bildern kennt und aus Erzählungen, sie stellt sich vor, wie sie das Beet anlegte, das später zur Sandkiste für sie und Jules wurde. Jula kann nicht aufhören zu lachen, er muss sie für hysterisch halten oder verrückt oder beides. Er legt den gefiederten Arm um sie, es ist wie ein holpriger Ritt in den Sonnenuntergang. So muss es sein, genau so.
    »Bringst du uns hier weg?«, fragt Jula.
    »Wenn du willst«, flüstert der Vogelmann, und jetzt küssen sie sich.
     
    Marie gräbt, es ist das tiefste Loch, das sie jemals gegraben hat. Überall sind Wurzeln und sie will auf keinen Fall etwas beschädigen, sie gräbt vorsichtig und kommt sich dabei vor wie eine

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