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Bevor Alles Verschwindet

Bevor Alles Verschwindet

Titel: Bevor Alles Verschwindet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Scheffel
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nur, so neutral wie immer, und dann setzt er sich dort, wo er steht, auf den Boden, und dort, wo er steht, ist der Stumpf
der Linde und von der wird Milo sich nicht so schnell wegbewegen.
    »Nun denn«, sagt der Gelbhelm und winkt den Kollegen mit dem Kittel und dem roten Knopf herbei. »Dann kann's ja losgehen.«
     
    Was ein Donnern hätte sein sollen, klingt wie Steinschlag auf einem Blechdach. Wackersteine, Backsteine, Felsbrocken von der Steilküste regnen auf seinen Tisch herab, so hört sich das an. Wacho betet nicht, hier betet keiner, immer noch nicht.
    Er drückt seine Reisetasche, er fragt sich, wie man so dumm sein kann oder so vollkommen stur. Er könnte die Quittung bekommen dafür, hier und heute erschlagen werden, ein Bürgermeister a. D., begraben unter seinem überflüssigen Rathaus. Wacho hat sich alles vorstellen können, ein halsbrecherisches Stolpern in der Küche, einen größenwahnsinnigen Sturz vom Dach, aber niemals ein Begräbnis im Keller. Er hätte es wissen müssen, er hätte sich weiter fernhalten sollen. Durch die vergitterten Fenster fällt Licht herein, es müsste kurz nach Mittag sein, im Keller ist es kühl und vor dem rechten Fenster landet der erste Brocken. In der Ecke zwischen Hochzeitstruhe und Eingang zur Werkstatt kauert David, und von der Decke rieselt jahrhundertealter Mörtel auf den Betonwaschboden und in Davids Haar.
    »David!«, brüllt Wacho durch den Lärm. »Komm sofort her!«
    David huscht auf ihn zu, den heilen Arm zum Schutz über den Kopf gelegt. Er sieht aus wie ein Krisenreporter aus den Nachrichten. Wacho rückt ein Stück zur Seite, streckt die Hände nach David aus, er packt seine Arme und zieht ihn zu sich unter den Tisch.
    »Bist du denn verrückt«, flüstert Wacho fassungslos. David schüttelt den Kopf, er sieht ihm nicht in die Augen, nicht mehr.
    »Du bist doch auch hier«, sagt David. Wacho nickt, als hät
te David ihm einen Grund für seinen Umzug in den Keller genannt, als würde es irgendeinen Sinn machen, sich gerade heute hier unten aufzuhalten, an dem Tag, an dem die Gelbhelme ihnen das Haus auseinandernehmen. David und Wacho hocken stumm und Wacho überlegt, ob er froh ist, dass David hier und nicht wie Anna verschwunden ist. Als David nach einer Weile einen Apfel aus der Tasche seines Pullovers zieht, hat Wacho sich immer noch nicht entschieden, ob es gut ist, dass er seinen Sohn heute hier unten wiedergefunden hat.
    »Magst du?«
    »Und du?«
    David legt beide Hände um den Apfel, er strengt sich sehr an, und Wacho will ihm schon anbieten, ihm zu helfen, will ihm verbieten, den kaputten Arm so zu belasten, aber da hat David es schon geschafft, hat den Apfel in zwei Hälften geteilt und gibt Wacho eine davon, auf seiner Stirn steht der Schweiß, seine Hand zittert.
    »Hab ich in der Speisekammer gefunden, da gibt es eine ganze Kiste, keine Ahnung, wie alt die sind.« Schweigend essen sie, unaufhörlich rieselt Staub von der Decke, aus dem Erdgeschoss sind Hammerschläge zu hören, so einfach fällt das Rathaus nicht.
    »Seit wann bist du hier?«, fragt Wacho schließlich.
    »Letzte Nacht«, sagt David, er kaut auch das Kerngehäuse, das tut er, seit ihm irgendjemand erzählt hat, dass das Innere des Apfels das Gesündeste sei und gut für den Magen. Wahrscheinlich hat Wacho David das sogar selbst erzählt, er überlegt, ob er ihm heute, hier unter dem Tisch, die Wahrheit sagen soll. Wacho entscheidet sich dagegen, stattdessen sagt er wieder einmal: »Es tut mir leid.«
    David nickt, er hat violette Schatten unter den Augen, und er müsste dringend zum Friseur. Wacho schaut von David hinüber zum Bild des Sohnes des Bürgermeisters anno 1851. Das lebensgroße Ölgemälde hatte Wacho gleich nach der
Übernahme des Amtes im Keller verstaut, weil er ihm unheimlich war, dieser blasse Junge mit dem Blick, der sich quer durch die Zeit, durch die Sonntagszeitung bis in Wachos Adern bohrte.
    »Du musst mehr essen«, sagt Wacho. »Kein Mensch kann sich nur von Äpfeln ernähren.« David nickt. »Machst du das auch wirklich?«
    »Ja«, sagt David und: »Mach ich wirklich.«
    Eine Weile spricht keiner der beiden, lauschen sie den Abrissarbeiten, gefährlich ist es wahrscheinlich nicht mehr, aber ganz genau wissen sie es nicht, und deshalb verharren sie unter dem Tisch und warten.
    »Wie stellst du dir das vor?«, fragt Wacho.
    »Was?«
    »So ein Leben im Keller.«
    »Keine Ahnung«, sagt David. »Irgendwas kommt schon, irgendwas kommt ja immer,

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