Bevor Alles Verschwindet
beobachtet David, der nach einer Antwort sucht oder einem Fluchtweg, der mit den Fingern der heilen Hand im Boden scharrt. Und schon
wieder dieser Blick aus Vergangenheitsaugen von anno dazumal, anno viel zu früh, und längst vorbei und anno nicht mehr Wachos Bier.
»Sie hat gesagt, ich darf dir nicht sagen, wohin sie geht«, sagt David, der Blick bleibt, aber Wacho würde zerbröseln wie sein unnützes Rathaus, wenn er kein Mensch wäre aus Fleisch und Blut und nun mal festgenagelt in dieser beschissenen Realität.
»Sag das noch mal«, sagt Wacho, und David sagt es noch mal. Entgeistert sieht Wacho seinen Sohn an, er vermutet, dass David mit dem kühlen Bürgermeistersohn vom Gemälde den Platz getauscht hat. Das ist nicht mehr sein David, der sich alles gefallen lässt, das ist jemand, der austeilt, und zwar gründlich.
»Weißt du eigentlich, was du da sagst?«
»Du hast gefragt«, sagt David, mit der rechten Hand zieht er den linken Arm heran, für diesen Augenblick wirkt er wieder verletzlich, und als Wacho das sieht, wie David mit seinem Arm umgeht, als wäre der sein sterbenskrankes Haustier, muss er schlucken, ohne genau zu wissen, warum.
»Du hast mir das all die Jahre verschwiegen?!«
»Ja«, sagt David und: »Mittlerweile weiß ich es auch nicht mehr. Ich habe vergessen, wo sie ist. Ich kann's dir nicht sagen.«
»Es wird dir schon wieder einfallen!«, brüllt Wacho und will zu den bewährten Mitteln greifen, nach Davids linkem Arm zuallererst, den will er fest drücken, aber in dem Moment, in dem er das tun will, schlägt weiter hinten im Raum etwas zu Boden und Wacho schreckt zurück. Er ahnt, was es war, es klang wie ein sehr alter, sehr großer Rahmen mit einer schwerölfarbenen Leinwand darin.
Wacho sitzt reglos, er wagt es nicht, zur Werkstatttür hinüberzuschauen und auch nicht zu David, denn wer da sitzen könnte statt ihm, den will Wacho nicht sehen, nie wieder.
»Ist schon gut«, flüstert er gegen die Panik in seiner Kehle an. »Das ist lange her, und sie wird eh kommen. Auch so.« Er sagt das, aber er zweifelt daran, dass sie überhaupt noch sucht. »Vielleicht sollten wir versuchen, hier herauszukommen«, sagt Wacho. »Hier wird deine Mutter uns ganz bestimmt nicht finden.«
Sie schieben sich unter dem Tisch hervor, die Luft ist staubig und schwer und sie beide sind grauweiß gepudert, sie erinnern an Gespenster der klassischen Art. Wacho unternimmt gar nicht erst den Versuch, sich sauber zu klopfen, und auch David bleibt, wie er ist, solange sie hintereinander durch die Trümmer balancieren. Wacho zieht an der Tür, die ins Treppenhaus führt, sie bewegt sich nicht, und in Wacho steigt schon wieder die Angst auf, so viel Angst, er ist heute zu involviert, so ist er doch sonst nicht, vielleicht liegt es am Abriss, vielleicht auch an David oder an beidem, vielleicht gehören David und der Abriss zusammen.
»Darf ich auch mal?«, fragt David, und Wacho lässt ihn vorbei, obwohl David mit seinem schlaff hängenden Arm bestimmt nichts bewirken kann. David zieht mit rechts und nichts bewegt sich, David macht weiter, sein Kopf wird rot und Wacho erkennt ihn endlich wieder, seinen Sohn, unter all dem Gespensterstaub.
»Lass mal, David, lass gut sein. Das bringt nichts, die ist zu.«
David lässt die Hand von der Klinke rutschen und sieht Wacho an, Wacho fühlt sich wie damals, kurz nachdem Anna verschwunden war und David täglich vor ihm gestanden hat, mit genau diesem Blick und der ewigen Frage danach, wann sie endlich zurück sein würde. Nur ein Spiel, nur ein Schauspiel für ihn und die beiden Verschwörer gegen seine Gutgläubigkeit: Dass der Kleine nicht mehr wissen wird als er, ihr Mann. Er hat sich getäuscht, hat sich von ihnen reinlegen lassen.
»Nenn mich bitte wieder Martin«, sagt Wacho und schiebt sich an David vorbei, auf die andere Möglichkeit, auf die letzte Chance zu, die Tür zum Garten. Wenn David sich hinter seinem Rücken wieder in den eiskalten Kerl von dem Gemälde verwandelt, dann wird Wacho schnell sein, notfalls wird er ihn einsperren, in dieser Gruft, das Wasser wird er den Rest erledigen lassen. Was sein muss, muss sein, und diese Tür muss sich öffnen.
Der Plan ist riskant und er ist einige Monate alt mittlerweile, aber daran kann Jules sich nicht stören, jetzt wird durchgezogen. Julas Gelbhelm noch einmal begegnet zu sein, wie der mit seinem lässigen Schritt an Milo vorbeimarschiert ist, ohne ihn zu beachten, das war der Anblick, den Jules
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