Bevor Alles Verschwindet
gebraucht hat, um aus dem Plan eine Aktion zu machen. Während Jules den Hang hinaufsteigt, erinnert er sich an den Tag, an dem der Vogelmann gemeinsam mit der Fotografin die Bilder gemacht hat. Wie er die Spitzhacke über Milos Kopf hielt, als wollte er ihn erschlagen. Jula wird verstehen, dass ihr Platz bei ihm ist, wenn sie von Jules in der Zeitung liest, das muss sie einfach. Jules hat unten schon einen Presseheini entdeckt, der will den Fall der Kirche dokumentieren und bekommt nun viel mehr geboten. Jules lächelt bei dem Gedanken, und er winkt in die Luft, vielleicht steht Jula gerade in diesem Moment auf irgendeinem Aussichtsturm ihrer neuen Heimatstadt und sieht ihn hier oben, endlich am frisch lackierten Sicherheitsgitter der Staumauer angekommen. Wie Jules winkt und wie er ihr zuruft: »Ich mach's, siehst du, ich zieh's durch!«
Natürlich haben sie das Gitter rot lackiert, irgendein Rostschutz ist das und er klebt an Jules' Händen, klebt rot. Er greift mit beiden Händen das Gitter, presst die Finger in den Lack und löst die Hände wieder. Dann hockt er sich hin und drückt die Handflächen sorgfältig gegen die Mauer, hier werden bald die Besucher stehen und sich auf der Infotafel an
sehen, wo ungefähr früher die Kirche war. Jetzt prangen hier Jules' Hände für alle Ewigkeit. Er muss sich beeilen, damit sie ihn nicht zurückhalten. Er richtet sich wieder auf, überprüft, ob das Seil richtig befestigt ist, ob die Gurte an den korrekten Stellen sitzen, ob alle Karabiner eingehakt sind. Das alte Kletterzeug ihres Vaters hat Jula schon vor einer Ewigkeit aus dem Keller geholt. Mit diesen Gurten ist sein Vater auf dem Mount Everest und dem Nanga Parbat gewesen. »Wir haben das im Blut«, hat Jula gesagt, »das Kletter-Gen. Es wird schnell gehen und einfach und es wird für sehr viel Aufmerksamkeit sorgen.« Noch mehr Aufmerksamkeit gäbe es, wenn sie jetzt bei ihm wäre. Gemeinsam sind sie ein Ausrufungszeichen, allein ist er nur ein winziger Punkt vor einer viel zu großen Mauer. Aber gerade deshalb muss er es durchziehen, Punkt hin oder her. Auch wenn der Reporter, der im Rückraum seines Dienstwagens höchstwahrscheinlich Kindersitze oder Hundefutterpackungen lagert, ihn als verrückten Achtzehnjährigen darstellen wird, der zu viel Zeit hat und diese für Dummheiten nutzt, selbst dann. Weil Jula es besser weiß, weil Jula ihn lesen kann, diesen winzigen Punkt vor der großen Mauer, diesen Punkt, der ihr Bruder ist.
Er befestigt das Seil am Geländer, dann steigt er vorsichtig hinüber, seine Hose wird rot dabei. An der Stelle, an der Jules den festen Boden hinter sich gelassen hat, werden sie neu streichen müssen, heute Abend noch, vor der feierlichen Eröffnung am nächsten Morgen. Ein Blick nach unten, eigentlich soll man nicht hinabschauen, hat Jeremias gesagt, das eine Mal, das er mit ihnen klettern war.
Sie müssen etwa zehn gewesen sein, und sie hatten vor nichts und niemandem Respekt und Angst sowieso nicht. »Nicht runtergucken«, hatte Jeremias gesagt, bevor sie noch die ersten Schritte an der Felswand gemacht haben. »Wenn ihr runterseht, stellt ihr euch vor, was passieren könnte, und dann kann es passieren. Konzentriert euch auf die Strecke
vor euch, seht nie zurück, es geht nur nach oben.« Sie sind geklettert wie Profis, jedenfalls hat Jeremias das nachher gesagt, am Küchentisch, als es für jeden zur Belohnung ein Spaghettieis gab. »Die beiden klettern wie Profis, in ein paar Jahren nehme ich sie mit in die Berge.« Sie waren wie besessen gewesen von den Bergen, sie wollten zum Gipfel hinauf und sich dort verewigen. Sie wussten nicht, wie und was ihre Verewigung sein würde, und sie wollten es sich noch nicht ausdenken, schließlich würden sie dann groß sein und völlig anders. Jetzt wäre es schön, hätten sie sich etwas überlegt. Aber Jeremias hatte nicht mehr von der Bergtour gesprochen, kein einziges Mal. Vielleicht waren ihm die Zwillinge zu größenwahnsinnig, zu kopflos geworden, vielleicht hatte er Angst, sie würden ihm abstürzen.
Heute ist Jules allein mit der Entscheidung für ein Zeichen und niemand hält ihn davon ab, hinabzublicken. Es ist keiner da, der ihn daran erinnert, dass das oft nicht gutgeht, wenn man sich der Tiefe stellt. Jules schaut hinab, sieht das Kirchenschiff einstürzen, von hier oben wirkt es völlig irrelevant. Er beobachtet, wie durch den verwilderten Garten hinter dem, was vor kurzem noch das Rathaus war, zwei Gespenster wandern.
Milo
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