Bevor Alles Verschwindet
oder?«
»Irgendwann kommt das Wasser«, sagt Wacho. David nickt, und Wacho schlägt ihn an den Hinterkopf, aber nur leicht, das dürfte nicht wehgetan haben. »Nick doch nicht immer«, sagt Wacho und spürt, wie David erneut nicken will, es sich aber im letzten Moment verkneift.
»Und was ist dein Plan?«, fragt David.
»Mit dir irgendwo neu anfangen, am besten in der Nähe und dort warten wir dann auf deine Mutter. Das wäre doch was, nicht wahr?«
»Ja«, sagt David. »Das wär' was.«
Irgendwo im Erdgeschoss kracht eine Wand um oder ein Stützpfeiler fällt zu Boden. Beide zucken zusammen und müssen über den gemeinsamen Schreck nicht lachen. »Das war laut«, sagt Wacho, und dann schweigen sie wieder.
Während das Rathaus mit Hammer und Bagger zertrümmert wird, geht Jules auf dem Friedhof den Kiesweg entlang.
Ein unsichtbarer Baum, eine Hecke, irgendetwas schluckt die Geräusche. Hier irgendwo muss auch Elenis Geheimnis liegen. Jules hat keine Ahnung, welcher Tote seiner Mutter so wichtig sein könnte, dass sich all ihre Trauer über den Untergang auf ihn richtet. Den Brief hat er nicht geöffnet, auch wenn es ihm schwergefallen ist. Aber er hätte Jula ohnehin nicht damit beeindrucken oder neugierig machen können. Sie hatte ein eigenes Geheimnis, sie hatte sich nicht wie er eines stehlen müssen.
Jules geht auf die übermannshohe Plane zu, wechselt vom Kies zur Erde, damit sie ihn nicht zu früh entdecken. Jules hat keine Ahnung, wer da liegt, wen sie gerade rausholen, aber er weiß, dass die Gräber in diesem Bereich sehr alt sind, viel wird da nicht umzubetten sein. Er muss sich nicht unbedingt so eine Art von Realismus reinfahren, er könnte einfach hinüber zum Staudamm gehen und alles vorbereiten für den letzten, ultimativen Protest. Aber er will es sehen, unbedingt, und als er die Plane vorsichtig ein Stück zur Seite schiebt, sieht er es: Die Männer in Schutzanzügen, mit Atemmasken, die Seile, den Sarg, die Reste. Es ist nicht schlimm, nur traurig, aber es sieht definitiv aus wie etwas, das auf keinen Fall sein darf, wie etwas, das nicht getan werden sollte, niemals.
»Das ist kein Kino«, sagt einer der maskierten Männer und baut sich vor ihm auf. Jules antwortet ihm, er wisse, dass das kein Kino sei, das könne man ja auch kaum verwechseln. »Zieh Leine«, sagt der Mann und: »Es ist gefährlich hier ohne Maske, die Keime.«
Jules geht weg von den Planen, den Maskierten, vorbei an den Menschen, die die Sprengung der Kirche vorbereiten. Heute wird der Rest abgerissen, heute geht es zu Ende. Sie werden noch von ihm hören, sie alle. Auch dieser hundertjährige Wichtigtuer. Jules braucht keine Weisheit, in den nächsten Stunden braucht er all seinen Mut.
»Uns ist nichts passiert«, sagt Wacho im Rathaus und hält Davids Kopf fest, damit der nicht nickt, Davids Nicken ist der Versuch, Distanz herzustellen, so hält er sich seinen Vater und weitere Fragen vom Hals. Wenn David immer nickt, sein ganzes Leben von jetzt an, dann wird er niemals mit Wacho sprechen müssen.
»Ich hab dich durchschaut.«
David erschrickt. Die Steine türmen sich auf vor beiden Fenstern, bestimmt auch vor der Tür, und vielleicht kommen sie hier nicht mehr raus.
»Vater und Sohn«, sagt Wacho zufrieden, um dann darauf zurückzukommen, dass er David durchschaut hat, mit dessen gerissenem, einzigem Trick. »So hältst du mich nicht mehr fern, mein Lieber, so machst du das nicht mehr, jetzt hab ich's gemerkt.«
»Was mache ich denn?«, fragt David, und das ist der erste Punkt für Wacho, David fragt ihn etwas, was ihn tatsächlich interessiert. Etwas, wovon Davids Zukunft abhängen könnte.
»Du willst nicht mit mir sprechen«, sagt Wacho.
»Worüber sollten wir denn sprechen?«, fragt David. Er klingt ernsthaft verwundert, und Wacho weiß nicht, was er sagen soll, was er vorschlagen könnte, als angemessenes Gesprächsthema für sie beide. Er kann David nicht mit Banalitäten kommen, er darf ihm nicht die Chance geben, sich wieder hinter dieses Gesicht zurückzuziehen, das so tut, als wäre ihm die Welt ganz egal, und die Welt für David ist doch wohl er, er will David nicht egal sein. Wacho holt die größte Frage aus der hintersten Ecke seiner Angst, und während er die Frage stellt, rieselt Putz auf den Eichentisch, das passt perfekt:
»Hat Mama eigentlich damals noch etwas gesagt, bevor sie ging, hat sie da noch etwas –« Wacho hält inne, der Rest wäre Stammeln, den Rest spart er sich und
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