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Bevor Alles Verschwindet

Bevor Alles Verschwindet

Titel: Bevor Alles Verschwindet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Scheffel
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sitzt nicht mehr auf dem Baumstumpf, der ist jetzt beim kopflosen Löwen, und nun gehen sie, Milo und Löwe, der Löwe humpelt, er schleppt sich, ihm fehlt nicht nur der Kopf, ihm fehlt auch eine Pranke. Milo und der Löwe gehen langsam auf die Staumauer zu, und Jules bildet sich ein, Milo schüttle den Kopf. Als der Staub sich legt, erkennt Jules, dass der Kirchturm immer noch steht, sie haben den Friedhof noch nicht mit Beton bedeckt. Von hier aus sieht er die Stelle, an der vor ein paar Wochen noch ihr Haus gestanden hat. Er fragt sich, während er sich langsam abseilt, was er vermisst, wogegen er sich wehrt, wenn er und Jula doch immer schon verkündet haben, dass sie weggehen würden irgendwann.
Sie wollten etwas haben von der Welt. Jules' Herz hüpft, als er sich das vorstellt, dass es tatsächlich möglich ist, etwas von der Welt zu sehen. Vielleicht ist es nie nur eine leere Drohung gewesen, sondern immer schon eine echte Option.
    Von unten rufen die Gelbhelme seinen Namen, woher kennen die ihn? Dann fällt es ihm ein: von Julas Vogelmann, sie hat ihm den Namen verraten. Einerseits ist das Hochverrat und andererseits der Beweis dafür, dass er immer noch eine Rolle spielt für sie. In diesem Moment mehr als je zuvor, er ist jetzt im Blickfeld, und da kommt auch schon der Reporter gelaufen, lässt die Trümmer der Kirche Trümmer sein und den wankenden Kirchturm wanken, jetzt zählt nur noch Jules.
    Es ist nicht schwer, er ist ein Naturtalent. Nach einem Schwung Angst geht es Jules wieder gut und seine zittrigen Beine beruhigen sich. Er hätte alles filmen sollen, das könnte man prima ins Internet stellen. Im neuen Ort funktioniert es bestimmt, aber dafür ist es jetzt zu spät, jetzt muss er sich ganz auf die Sache konzentrieren. Auch von oben, vom Gitter her, ruft jemand nach ihm. Sie sind Jules nachgestiegen, wenn er Pech hat, versuchen sie, ihn hochzuziehen. Er beeilt sich, bevor sie ihn hochholen, muss er fertig sein, wenn sie ihn dann ziehen, soll's ihm recht sein, so spart er sich den Aufstieg nachher.
    »Jules, halt!«, ruft der Vogelmann. Sein Gesicht ist rotfleckig, er ist gerannt, um Jules von seiner genialen Protestaktion abzuhalten, das sieht ihm ähnlich. »Egal, was passiert, wir müssen das durchziehen«, hat Jula gesagt. Natürlich wird Jules das durchziehen, erst recht, wenn ihr Typ da oben steht und ihn anfleht, es nicht zu tun. Das war der Kerl, der ihn nach dem Zusammenstoß mit der Linde verarztet hat, Jules erinnert sich wieder. Immer dieser Gelbhelm, immer dieses eine Federvieh, obwohl es so viele, viel zu viele gibt von ihnen, hier und wahrscheinlich überall.
    Jules lacht zu ihm hinauf, er lacht ihn aus, ihn und sein
schwitziges Gesicht. Was für ein Angsthase, was für eine Panikmache, was für ein Angeber, der mit seinem Breitwandtattoo und für so einen hat Jula sich entschieden. Jules zieht die Spraydose unter seinem Gürtel hervor, er hätte oben schon schütteln, den Verschluss lösen können, egal, dann macht er es eben jetzt. Jules schüttelt und versucht, die Dose zu öffnen, gar nicht so einfach, er hat so ein Zeug noch nie benutzt, er weiß nicht einmal, wo Jula das herhat, vielleicht haben Julas Geheimnisse bereits vor diesem Vogelmann begonnen.
    Er hätte einen Schraubenzieher mitbringen sollen, der Deckel sitzt fest, den bekommt er so nicht auf. Jules überlegt, steckt sich den Sprühkopf zwischen die Zähne, hat die Hände frei, um den Gürtel aus der Hose zu ziehen. Mit dem Dorn kann er die Dose aufhebeln, wenn das nicht klappt, muss er wieder hoch und Werkzeug holen, aber die Chance werden sie ihm nicht geben, vorher hat irgendwer die Polizei verständigt. Er muss es also jetzt schaffen, und er schafft es, aber dann fällt ihm der Gürtel hinunter. Von unten hört er Schreie, aber den Fehler, hinunterzusehen, den macht er nicht noch einmal. Stattdessen noch ein Blick in das Gesicht des Vogelmanns, der ist schon auf halber Strecke auf dem Weg zu ihm, auch er hängt in einem Geschirr, nur ist seins viel moderner, aber bestimmt nicht achttausendererprobt.
    »Was willst du?«, ruft Jules und hält dem Vogelmann die Sprühdose entgegen, die Dose ist seine Waffe. Der Schriftzug ist die Anklage, die Jula später in der Zeitung finden wird, die Schrift, denkt Jules, wird noch Jahre später durchs Stauwasser leuchten.
    »Ich ziehe dich hoch«, ruft der Vogelmann ihm zu, und Jules testet die Sprühkraft in seine Richtung. Das Ergebnis: Rot auf Wand und Rot auf

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