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Bevor Alles Verschwindet

Bevor Alles Verschwindet

Titel: Bevor Alles Verschwindet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Scheffel
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dem Riss. Dann setzen die Reflexe ein, Jules rudert mit den Armen, tritt mit den Beinen, sucht nach einem Halt, aber den gibt es nicht an dieser perfekten Mauer. Das Seil reißt.
    Jules fällt, und im Fallen ist er plötzlich wieder ganz ruhig und er denkt noch, dass er das gut gemacht hat und zu Ende gebracht, er denkt Weltmeer –
    Sie sehen nicht hin. Sie drehen sich weg und senken die Köpfe, sie starren auf die Trümmer des Rathauses, die Trümmer der Kirche und auf den Turm, der nun endlich in sich zusammengestürzt ist. Da gab es keine Gleichzeitigkeit, erst fiel der Turm und dann fiel der Junge.
    Der Lokalreporter schreibt in sein Notizbuch, Einen Tag vor der Flutung , schreibt, noch nicht zwanzig und Protestaktion und hinter Protestaktion schreibt er (unsinnige) , schreibt er (verzweifelte) , schreibt er (letzte) . Der Lokalreporter schreibt Zukunft und streicht diese dann durch, er schreibt Stille und keine Chance und man hätte , und auch das streicht er durch. Vielleicht reicht ein Bild und der Name des Jungen, den muss er noch herausfinden. Als er den Block umständlich in der Innentasche seines Sakkos verstaut, kommen zwei Uniformierte auf die Versammlung an der Staumauer zu, das Emblem mit Pferden auf der Brust, sie sehen viele stille Menschen, die für gewöhnlich nicht so dicht beieinanderstehen, Jules sehen sie noch nicht.
    »Was ist passiert?«, fragt einer der beiden, und ein Gelbhelm zeigt auf den Jungen, und jetzt verstehen die Verantwortlichen, was los ist, aus ihren Gesichtern weicht der letzte Rest Farbe, und einer von ihnen greift zum Funkgerät, in diesem Loch hat man meistens keinen Empfang, aber mit dem Gerät
müsste er durchkommen. Während der eine Sicherheitsbeamte alle verständigt, die verständigt werden müssen, rührt David sich plötzlich und geht an dem Mann vorbei, ganz ruhig geht er, langsam. Er geht in die Knie, zieht sein T-Shirt über den Kopf, klopft es sorgfältig aus, und eine feine weiße Staubschicht rieselt auf Jules. David reißt das T-Shirt an den Nähten auf, mit Hilfe der Zähne macht er das und mit nur einem Arm. Aus dem T-Shirt ist eine dünne Decke geworden, er breitet sie über Jules, über den Kopf zuerst, dann über die Brust, der Stoff reicht nur bis knapp über die Knie, aber so ist es besser, definitiv. Zwei Bauarbeiter verlassen die Unfallstelle, Julas Gelbhelm, der Vogelmann, Anton, der eben noch fassungslos an der Mauer hing, kommt gelaufen, er keucht. Er hat etwas Blutrotes auf dem Hemd, etwas, das aussieht, wie ein n. Der Lokalreporter tritt zur Seite, lässt ihn vorbei, hin zu David, hin zu Jules unter der dünnen Decke. Der Lokalreporter stellt keine Fragen.
    David und Anton wechseln einen Blick, David beißt sich auf die Lippe, Anton macht es ihm nach, und der Lokalreporter macht ein Foto.
    »Das Seil«, sagt Anton. »So ein altes Seil.« David nickt, er beißt noch fester zu.
    »Sprichst du mit Jula?«, fragt er, und Anton nickt, aber man sieht ihm an, dass er nicht mit Jula sprechen will, darüber will er nicht mit ihr sprechen.
    »Ich weiß nicht, wie ich es ihr sagen soll«, sagt Anton. David will nicken, aber im letzten Moment reißt er sich zusammen und streicht stattdessen über seinen linken, seinen seltsamen Arm, streicht dann über die Decke, auf Höhe des Kopfes. »Jules«, sagt er. »Jules, so eine Scheiße.«
    Der Lokalreporter notiert sich den Namen Jules , den kann er in die Überschrift aufnehmen: Jules sagt nein . Der Reporter sieht zur Mauer hinauf, eigentlich müsste es heißen Jules sagt ein , das n hat sich dieser Anton genommen, das prangt auf sei
ner Brust, das wird auch seine Jula sehen, wenn er ihr erzählt, was geschehen ist. Es sei denn, er denkt daran, sich vorher umzuziehen.
    »Dass er so etwas macht«, sagt Anton und schüttelt den Kopf. David sagt nichts, aber jetzt kommen zwei Polizeiwagen, beide mit Sirene und Blaulicht, und ein Krankenwagen. Während die Fahrzeuge parken, löst sich die Versammlung langsam auf. Die Gelbhelme gehen zurück zu den Resten der Kirche, sie müssen aufräumen und versiegeln. Einer von ihnen, der Schlangenmensch, beugt sich zu Anton hinab:
    »Kommst du klar?« Anton nickt.
    »Ich komme gleich.«
    »Fahr nach Hause, Anton. Sprich mit ihr.« Anton nickt wieder, steht mühsam auf, reicht David die Hand.
    »Danke.« David schüttelt die Hand, steht da in einer merkwürdigen, halbaufgerichteten Position. Anton mit dem n auf der Brust lässt die Hand los, dreht sich ruckartig weg, geht in

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