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Bevor Alles Verschwindet

Bevor Alles Verschwindet

Titel: Bevor Alles Verschwindet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Scheffel
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Gelbhelmschuhsohle. Jules ist zufrieden. »Beweg dich nicht«, ruft der Vogelmann, dieser Wichtigtuer, der will wohl mit ihm in die Zeitung: Beflügelter Gelbhelm rettet verrückten einheimischen Zwilling . Der Vogel
mann, der Jula beeindrucken will, mit einem »Ach ja, vorhin habe ich übrigens deinen albernen Bruder vor einer großen Dummheit bewahrt«.
    »Bloß nicht bewegen, dir passiert nichts«, sagt der Vogelmann, er sagt es so ruhig wie möglich. »Ich heiße Anton«, sagt er, als wenn das irgendetwas bedeuten würde, Jules interessiert es einen Scheiß, wie er heißt. Er zeigt dem Typen, wie wenig es ihn interessiert, was der sagt, nicht alle Salamander-Zwillinge geben etwas auf sein Gerede. Mit den Füßen stößt er sich von der Mauer ab und schaukelt ein Stück hin und her, von unten ein Aufschrei, von oben ein reißendes Geräusch, das hoffentlich nicht von seinem Seil stammt. »Wir sichern uns«, hat Jula gesagt. »Einer klettert runter, der andere passt oben auf, das hier soll kein Selbstmordkommando werden, darum geht es nicht. Es geht nur um den Protest.« Sie hat seine Hand gedrückt, während sie das sagte, und sie hat dabei nicht an den Vogelmann gedacht, hoffentlich nicht.
    Jules schämt sich, Julas Plan kleiner zu machen. Eigentlich sollte er irgendeine Art Sprengstoff dabeihaben, den würde er in eine Mauerritze stecken und dann zünden. Im besten Fall, nach Julas Plan also, würden dann ein paar Steine herausfliegen und die Mauer wäre nicht mehr perfekt. »Wenigstens nicht mehr perfekt. Das kostet, so eine Ausbesserung.« Wahrscheinlich würde er selbst für den Schaden aufkommen müssen. Eigentlich ist es gut, dass er keinen Sprengstoff organisieren konnte, weil er den Kopf viel zu voll hatte und plötzlich keine Ideen mehr. Das wäre teuer geworden, und das Studium hätte er wohl vergessen können.
    Jules achtet nicht auf das Knirschen vom Seil. Er wird Jula sagen, dass es in der Mauer keine Ritzen gibt, die Mauer ist so perfekt, dass man absolut keine Chance hat, an ihr irgendetwas Gefährliches zu befestigen. Außer sich selbst. Er wird ihr auch sagen, wie dumm die Idee war, das alte Seil zu verwenden, aus nostalgischen Gründen und aus praktischen.
Dass die Protestaktion ein neues Seil wert gewesen wäre, so eins wie das, an dem ihr Vogelmann, dieser dämliche Anton, jetzt hängt. Die Firma sorgt sich um ihre Gelbhelme, sie sind ihr Aushängeschild, genau wie die Mauer, die sie am Grab seines Zuhauses aufgebaut haben. Jules wird sagen: »So ein blaues Kunststoffseil, das hätten wir kaufen sollen.« Jula wird ihm recht geben, um ihn ruhigzustellen, und insgeheim wird sie trotzdem der Meinung sein, dass alles so richtig war, ganz genauso und wie von ihr geplant.
    Neben ihm taucht eine große Hand auf, eine Hand voller Furchen und Schwielen, eine Hand, die viel älter zu sein scheint als der Typ, dem sie gehört. »Los!«, ruft der Vogelmann. »Nimm meine Hand.« Aber Jules nimmt sie nicht, er starrt sie nur an und den blau gefiederten Arm entlang, der so viel kräftiger ist als seiner, hoch zu den Schultern, die breit sind, sehr viel breiter, selbst der Hals ist breiter und das Kinn und die Nasenflügel und die Stirn, und dann kommt der Helm und der ist gelb wie eh und je, und Jules erinnert sich und beginnt zu sprühen. Ihm fällt nur ein Wort ein, der Plan ist wirklich sehr grob, er basiert eigentlich nur auf der Idee, es zu tun, und zwar zusammen, aber jetzt ist er allein und das Wort, das ihm einfällt, kommt ihm in diesem Moment absolut richtig vor, und um es sprühen zu können, muss Jules hin und her schwingen und neben ihm wird der Vogelmann immer aufgeregter, wandert seine Stimme höher. »Hör auf!«, ruft der Vogelmann und: »Du bringst dich um.«
    Jules schwingt und sprüht, und ein Buchstabe seines Wortes landet auf der Brust des Vogelmanns, und es ist gut, dass der jetzt einbezogen ist. Am schönsten wäre es, wenn er da hängen bliebe, bis Jules unten ist, bei seinem Rucksack, um Julas Kamera zu holen, die hat er ihr rechtzeitig aus der Tasche gezogen, bevor sie verschwunden ist. Das Foto würde er Jula schicken, am besten ausgedruckt in einem großen, braunen Umschlag, wie sie das in amerikanischen Filmen
tun, wenn es psychopathisch wird. Er hat so viel Zeit zu denken und jeder Gedanke ist klar, trotz der Angst, die frisst sich das reißende Seil hinab.
    Er weiß nicht, ob es besser ist, stillzuhalten, oder nach oben zu greifen, zu versuchen, an das Seil zu kommen, über

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