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Bevor Alles Verschwindet

Bevor Alles Verschwindet

Titel: Bevor Alles Verschwindet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Scheffel
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Richtung des Parkplatzes. Der Lokalreporter will ihm erst folgen, entscheidet sich dann aber dagegen.
    Ein Polizist tritt an David heran, fragt ihn leise, ob er ein Angehöriger sei. David weiß einen Moment lang nicht, was gemeint ist, nickt, schüttelt dann den Kopf. Zwei Sanitäter kommen dazu, wahrscheinlich hat der Polizist sie herangewinkt, einer nimmt ihn sacht am Arm. David zuckt dennoch zusammen, auch diese leichte Berührung schmerzt. Der Sanitäter entschuldigt sich, legt ihm die Hand auf den Rücken und führt ihn zur Seite, damit sie ihre Arbeit machen, damit sie den letzten Demonstranten auf ihre Bahre legen und aus dem Ort bringen können.
    David ist noch da, verloren steht er auf dem Platz. David lebt und er hat Hunger.
    »Bleiben Sie hier stehen«, sagt einer der Sanitäter, und ein anderer legt ihm eine Decke um, die Decke kratzt, und David lässt sie den Rücken hinab auf den Boden gleiten, obwohl ihm
kalt ist. Irgendjemand wird sie schon aufheben. Er muss sich um nichts kümmern, nur darum, nicht auszuflippen.
    Da kommt sein Vater, Wacho, immer Wacho, der schon wieder eine Idee haben, der sich neben ihn setzen wird und ihm sagen, dass es ihm leidtut, immer dieses Leiden seines Vaters. Wacho setzt sich, er öffnet den Mund, und David sagt:
    »Sag jetzt nichts.«
    »In Ordnung«, sagt Wacho und: »Ich wusste gar nicht, dass ihr euch so nah wart.«
    »Waren wir nicht.« David weint keine Träne, alles, was er fühlt, ist die Müdigkeit.
    »Ich spreche mit Jeremias und Eleni«, sagt Wacho leise.
    »Lass das die Polizei machen«, sagt David. »Die wissen, wie man so was am besten sagt.«
    »Aber ich bin der Bürgermeister.«
    »Nicht mehr«, sagt David, steht auf und geht, er wundert sich, dass sein Vater ihn lässt und sitzen bleibt, wo David ihn zurückgelassen hat. Wie er da hockt, wie ein alter Hund vor dem Supermarkt.
    Milo steht vor dem Friedhof. Er hat für David in der letzten Zeit keine Rolle gespielt, keinen Unterschied mehr gemacht. Auf dem Friedhof versiegeln sie die Gräber, kein Toter wird hier mehr auferstehen. »Das ist der final curtain«, hat Robert gesagt. »Wenn sie den Friedhof versiegeln, dann fällt der letzte Vorhang.« Und dann hat Robert die anderen angesehen und ihm ist klargeworden, dass niemand so richtig verstand, warum er das sagte, final curtain. David findet, es klingt wie ein Rätsel, das eine neue Tür öffnet, nicht wie ein allerletzter Abschied. Er muss an Jula denken, die noch von nichts weiß. Er würde mit Jula tauschen, er würde mit jedem tauschen, dem Nähe etwas bedeutet und ein anderer Mensch.
    David entdeckt Wacho, der hockt vor der Stelle, an der einmal das Rathaus stand. Die weiße Treppe bearbeiten sie mit Presslufthämmern, der kopflose Löwe soll abmontiert wer
den, für den Transport in den neuen Ort. Sie werden dem anderen Löwen den Kopf abschlagen und ihm diesen geben. Ein Mann, der wahrscheinlich ein Sachverständiger ist, prüft Substanz von Löwe und Boden, der Löwe grinst David kopflos an, als der sich neben dem Stumpf der Linde auf den Boden legt.
    Er darf da nicht so einfach schlafen, mitten auf dem Platz, aber Wacho fehlt die Kraft, hinüberzugehen und David davon abzuhalten. Soll er doch schlafen, soll er sich doch später über die Bilder der Schaulustigen ärgern. Die Polizei hat die Stelle abgesperrt, an der Jules lag, und nun stehen die Menschen an dem rot-weißen Band und studieren den Boden, auf dem man nichts mehr sieht. Es werden Fotos gemacht von irgendwas, auch von David, auch von der Mauer, die Menschen wirken zufrieden und beruhigt, vielleicht weil sie merken, dass Schlimmes kein Echo hat, das ein Unbeteiligter hören könnte. Da ist nur eine Mauer, ist nur Erde und ein Schriftzug, der keinen Sinn ergibt.
    Wacho erinnert sich daran, wie der Schlangenmensch ihn nach Jules' unfreiwilligem Angriff auf die Linde ermahnt hat, ein Auge auf den Jungen zu haben, gestern noch hat Eleni ihn um das Gleiche gebeten. Wacho hatte keine Zeit, aufzupassen, jetzt wünscht er sich einen Bürgermeisterkollegen, einen Bruder oder einfach nur einen guten Freund. Sie war ihm immer am nächsten, Wacho muss an Anna denken, an ihr grünes Kleid, an ihre ausgewaschene Jeans, ihre roten Ohrstecker und das Medaillon mit dem Bild ihrer Mutter. Ihre Mutter ist schon lange tot und liegt seit ein paar Minuten unter Beton, das Medaillon lässt sich nicht mehr öffnen, er hat das Bild nie zu Gesicht bekommen, aber Anna hat beteuert, dass es darin sei. Wacho

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