Bevor Alles Verschwindet
mustert seine Hände, den zerkratzten Ring, den er nie abgenommen hat. Ein großer Teil seines Glaubens basiert darauf, dass Anna ihren Ring mitgenommen hat. Wenn sie den Ring wirklich verlassen hätte, dann hätte sie den Ring auf den Küchentisch gelegt. Wachos Hände lösen sich in der
Dunkelheit auf. Es ist an der Zeit, alles vorzubereiten für die letzte Nacht.
Das Aufstehen fällt schwer, er braucht zwei Anläufe, dann macht er sich daran, das kleine Zelt aufzubauen. Das Zelt ist alt, lange lag es unter seinem Bett, vor Jahren sollte es ein Geburtstagsgeschenk werden für David. Aber dann war es ihm falsch vorgekommen, dem Sohn einer unruhigen Mutter ein derart flexibles Zuhause zu schenken. Damals wusste er noch nicht, dass David immer bei ihm bleiben würde. Aber David hat alle Tests bestanden, er hat in seinem Zimmer gesessen, so lange, bis ihm fast das Dach auf den Kopf gestürzt wäre, und dass er neulich im Keller des Salamander-Hauses eingeschlafen ist, das war wohl ein Versehen. David möchte bei seinem Vater sein für alle Zeit, und so kann Wacho es wagen, das Tipi aus der Plastikhülle zu befreien. Es braucht nur die drei Stangen und einen festen Knoten, dann steht das Zelt, auf den Stoff sind bunte Bärentatzen gedruckt und kleine Krieger, die aussehen, als hätte man ihnen die Wirklichkeit geraubt, die Krieger sind Schatten, und als Wacho ins Zelt kriecht, riecht es dort muffig. Er zieht die kleine Reisetasche zu sich herein, mehr nimmt er nicht mit, ein paar Hemden und Hosen, die guten Schuhe, das Fotoalbum, eine Flasche, den Schlafanzug, die Plastiktüte mit dem Waschzeug, zwei Isomatten, einen graugrünen Schlafsack und die Extradecke. Wacho nimmt einen tiefen Schluck, im Magen wird es warm, dort breitet sich ein vages Gefühl von Romantik aus, er zeltet und es ist Sommer. Dann beginnt er sich umzuziehen, er legt, was er auszieht, ordentlich zusammen und in die Tasche. Die schweren Schuhe stellt er rechtwinklig vor den Eingang.
Jules sagt, er wünsche sich, dass oben ein Platz nach ihm benannt wird. Dafür muss David sorgen. Wenn er es nicht schafft, wird Jules die Staumauer umwerfen, und sie alle, die neuen Häuser, die Touristen werden davongespült, begraben unter dem Wasser.
Als David aufwacht, ist er nass geschwitzt, es kann an der Junihitze liegen oder am Traum. Er weiß nicht, wie er das schaffen soll, ein Platz mit Jules' Namen, vielleicht gibt es dafür irgendein Amt. Jetzt taucht mitten auf dem Hauptplatz eine weiße Gestalt auf, und David greift mit der Hand in die Wurzeln der Linde, sie fühlen sich lebendig an. David schließt die Augen, öffnet sie wieder, er reibt mehr hinein als hinaus. Das, was er für eine Gestalt gehalten hat, ist ein Zelt. So eins hat er sich vor vielen Jahren zum Geburtstag gewünscht. Stattdessen hat er einen Malkasten bekommen.
David geht auf das Zelt zu, der Löwe humpelt ein paar Schritte mit ihm, er zieht die Plastikplane mit, in der sie ihn verpackt haben, er ist fertig zum Abtransport, aber noch lange nicht bereit, so wenig wie David. Der Löwe bleibt stehen, die Plane raschelt einen Moment nach, dann ist es still. Der Löwe sieht zu der Stelle hinüber, an der das Haus auf dem Lastwagen steht, wo der andere Löwe sich in den Boden krallt. Vor dem Zelt steht Milo wie ein Indianerhäuptling, der die Arme hängen lässt.
»Hallo«, sagt David. Milo sagt nichts. Milo ist durch nichts zum Sprechen zu bekommen. »Ich habe von Jules geträumt, er hat Angst, vergessen zu werden.« David sieht Milo erwartungsvoll an, aber der schweigt nur und guckt, er lächelt nicht. »Worauf wartest du?«, fragt David und starrt zurück, das kann er auch, still sein und gucken, das ist keine Kunst. Eine Kunst ist es, hier und heute noch Worte zu finden. »Ach, lass mich doch?«, sagt David. »Geh doch.«
Milo rührt sich nicht, und David, mit einem kartoffelgroßen Kloß im Hals und mit dem Verschwinden aller Möglichkeiten, beginnt, sich schlimm zu fühlen, richtig schlimm. »Warum bist du überhaupt hier?«, fragt er leise. Milo zeigt zum Transporter hinüber, auf dem seit ein paar Tagen ihr Haus steht. »Das ist morgen früh weg«, sagt David. »Dann kannst du auch gehen, dann gibt es hier nichts mehr für dich.« Vor
sichtig legt Milo seine Hand auf Davids Wange, dann auf seinen Arm. Milo streicht mit dem Daumen über Davids geschlossene Lider und David spürt, wie sich sein Körper ganz allmählich beruhigt.
»Hinlegen«, sagt Wacho und: »Komm ins Zelt.« David
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