Bevor Alles Verschwindet
enttäuscht, dass ihr Vater sie angelogen hatte.
Einige Monate später kam dann David auf die Welt, eine Hausgeburt, die Claras Mutter als Hebamme begleitete. Ihre Mutter bestand auch darauf, dass Clara dem neuen Ortsbewohner Hallo sagte. Clara sah das winzige Wesen, rotrunzlig machte es merkwürdige Geräusche, und Martin Wacholder guckte ganz seltsam, ein bisschen so, als hätte ihm Claras Vater ein Beruhigungsmittel gegeben, eines, von dem man ständig lachen und grinsen muss. Anna hat Clara gefragt, ob sie
David im Arm halten wolle. Aber Clara fand Babys langweilig und Jungs doof und so hatte sie schon bald nicht mehr viel mit Frau Wacholder zu tun. Und erst nach Maries Geburt war Martin wieder in Claras Leben aufgetaucht, der konnte gut umgehen mit kleinen Kindern und gab ihr und Robert in der ersten aufgeregten Phase viele Tipps, die vor allem Robert gierig aufsaugte, und bis jetzt reicht das aus, und bald wird auch Clara einen Draht zu Marie finden, bald wird man mit Marie richtig sprechen können, von Erwachsenem zu Erwachsenem und damit vernünftig, und vernünftig ist Clara sehr wichtig.
Clara weiß nicht mehr genau, wie Anna ausgesehen hat, dabei war sie hier ständig präsent, so lange, bis sie anfing, nur noch aus dem Fenster zu starren, bis sie zu sprechen aufhörte und dann eines Tages verschwand. Das muss zwanzig Jahre her sein oder länger. Mona könnte das wissen, Mona und Anna waren befreundet, bevor beide seltsam wurden, Mona wahrscheinlich wegen ihrer Mutter und Anna aus einem völlig unbekannten Grund, über den heute noch ab und zu jemand rätselt, ohne je zu einem Ergebnis zu kommen. Sie war einfach weg, ohne Auto und außerhalb der Busfahrzeiten, weg, wie vom Erdboden verschluckt.
Clara überlegt, ob sie Wacho hinterherlaufen soll, ihn irgendwas fragen wegen Marie und ob sie ihn vielleicht so zum Sprechen bringen kann. Aber Wacho ist schon bei der Rathaustür, und zu rennen oder zu rufen kommt Clara dann doch übertrieben vor. Irgendwas liegt in der Luft, etwas stimmt nicht, denkt Clara und wundert sich über sich selbst. Sie ist niemand, der Vorahnungen traut, und im Übrigen auch niemand, der glaubt, man könne die Zukunft voraussagen, und schon gar nicht mit Hilfe der Haarstruktur, wie Anna behauptet hat. Clara erinnert sich: Damals, als alles anders war, als sie noch keine Ahnung hatten von nichts und ihre Phantasie sperrangelweit offen stand, wurden ihnen zwei Dinge prophe
zeit: erstens, ihr werdet einmal sehr glücklich sein, und zweitens, alles geht unter. Sie erinnert sich, wie ungeduldig Wacho wurde, wie er fast schon lauerte auf dieses versprochene Glück, und wie sie selbst gelacht hat, über die Vorstellung, wie alles unterginge, in den Boden versinken würde, die Häuser, die Schaukel und sie selbst, Clara, Mama und Papa. Unter der Erde lebten sie weiter, und Clara würde an Regenwürmern und Maulwürfen vorbeischaukeln, die Vorstellung machte ihr keine Angst. Wahrscheinlich würde ihr Vater darauf bestehen, seine Praxis mitzunehmen, die Leute würden Schlange stehen und sich über Erde in den Augen beschweren und ihr Vater würde teure Spezialbrillen und Ersatzaugen verkaufen und sie würden sehr reich werden und sich ein Boot leisten können und um die Welt fahren, auf der Suche nach unentdeckten Krankheiten.
Clara schüttelt den Kopf, anscheinend hat auch sie eine Zeitlang gesponnen, war sie selbst in der Phase, in der Marie gerade ist. Aber heute ist einfach ein seltsamer Tag, auch wenn man es vollkommen kühl und sachlich betrachtet. Zum Beispiel riecht es wieder nach Kohle, obwohl alle ihre Fachwerkhäuser mittlerweile mit Heizkörpern ausgestattet haben, Fernwärme strömt in den Ort, von hinter den Bergen kommt die und damit von ganz weit weg. Clara sieht sich um, aus keinem der Schornsteine quillt Rauch, vielleicht ist es so etwas wie ein Duftecho, das ist nicht unwahrscheinlich, bei Schlafmangel. Interessant ist, dass ein blauer Fuchs auf dem Brunnenrand sitzt. Offenbar hat sie sich von Marie anstecken lassen. Jetzt fehlt nur noch, dass sie anfängt, von einer Blutung zu sprechen. Sie muss unbedingt an ihrer Konzentration arbeiten, sich heute Nachmittag für ein Stündchen auf die Behandlungsliege legen und ein wenig entspannen. Außerdem wird sie sich ein Nuss-Nougat-Croissant gönnen.
Der Fuchs steht mit einem Mal und anscheinend ohne einen Weg zurückgelegt zu haben im gelben Licht, das durch die
holzeingefasste Glastür zur Bäckerei auf den Platz fällt, er
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