Bevor Alles Verschwindet
mühelos über die Schulter und trägt ihn lachend in Richtung Küche. »Bis zehn vor acht wird gefeiert«, ruft Wacho in Davids Gebrüll hinein und: »Wer ist eigentlich dieser Milo?«
»Niemand«, ruft David, »niemand für dich.«
Während Jules den Lieferwagen vor der Bäckerei abstellt, singt er vor sich hin. Kollegen hat er keine, aber den Rest des Tages frei: Seit er den Führerschein hat, ist Jules für die Postauslieferung im Ort zuständig, für die braucht er nicht lange. Jeden Nachmittag fährt er für seine Mutter zum Großmarkt in die Stadt, kauft Mehl und alles Übrige und spart der Familie so die Lieferkosten, das ist sein Beitrag. Aber sie lassen ihn trotzdem nicht in Ruhe, nie.
Heute bittet ihn seine Mutter, als er auf ein Baguette, für Zeit mit Jula und die Einkaufsliste vorbeikommt, in den Ofen zu steigen. Darin riecht etwas übel. Jules drückt Jula sein Schinkenbaguette in die Hand, zieht den Mantel aus und krempelt die Ärmel hoch.
»Tu nicht so großartig«, sagt Jula mit vollem Mund. Sie mag keinen Schinken, aber sie will alles haben, was Jules hat.
»Komm nicht gegen die Rohre, die glühen noch nach«, sagt Eleni, sie klingt besorgt. Aber so schlimm ist es nicht, in den Ofen zu kriechen wie Hänsel und eine Gänsehaut im Nacken zu haben dabei. Er weiß, dass Jula aufpasst, und sie wird Eleni davon abhalten, ihn ganz hineinzuschieben und die Tür zu verriegeln. Solange Jula da ist, kann Jules nichts geschehen, nicht beim Kratzen im Ofen und nicht beim Leben danach. Wo die Vorstellung herkommt, Eleni könne Jules in den Ofen schieben, wissen sie nicht, aber in diesem Moment haben die Zwillinge die gleiche Angst. Da ist schon immer etwas gewesen. Seit die Zwillinge denken können, ist da was, irgendetwas mit oder an Eleni, sie verbirgt etwas vor dem Rest der Familie, und höchstwahrscheinlich werden sie das Geheimnis niemals lüften, trotz aller Vertrautheit und Nähe bleibt ihre Mutter den Zwillingen immer ein bisschen fremd.
»Was siehst du?«, fragt sie von draußen, Jules schaltet die Taschenlampe an. Mit dem zögernden Licht der Restbatterie versucht er, etwas zu erkennen. Da kleben verbrannte Kuchenkrümel, ein verkohltes Marzipanhörnchen, aber das ist normal und nichts weiter, und dann entdeckt er doch etwas. Erst denkt er, es ist ein Tier, rund und funkelnd, irgendetwas Sagenhaftes, das nur in Öfen vorkommt. Dann erkennt er, dass es Cellophan ist und dass er dieses Cellophanding schon einmal gesehen hat, heute Morgen auf der weißen Treppe.
»Hier liegt ein Blumenstrauß«, brüllt Jules aus der Tiefe des Ofens. Er ist mutig, deshalb greift er sich das Ding und
ruft dann: »Los!« Wie besprochen ziehen Jula und ihre Mutter ihn sofort aus dem Ofen. Der Blumenstrauß sieht aus, als hätte er im Klima des Ofens gewuchert, irgendwie ist alles an ihm überdimensioniert.
»Schmeiß den weg«, sagt Eleni ruhig, sie ist blasser als Mona gestern. »Und dann kannst du gleich losfahren zum Großmarkt, die Liste liegt auf dem Telefontischchen, und um acht musst du allerspätestens zurück sein, da beginnt die Versammlung im Tore, also beeil dich.« Sie streicht ihm über das verschmierte Gesicht, zupft ihm eine Makrone vom Knie und drückt Jules einen schnellen Kuss auf die Stirn.
»Danke, mein Großer«, sagt sie noch und geht zurück in den Verkaufsraum.
»Irgendwas ist doch los hier«, sagt Jula.
»Ja«, sagt Jules und: »Aber das ist nicht schlimm, das geht uns nichts an.«
»Wahrscheinlich«, sagt Jula, »du musst los.« Einmal umarmen, wie immer, den Strauß hält Jules mit spitzen Fingern, die Handflächen müssen geschont werden.
»Bis um acht.«
»Bis um acht.« Jules steht schon in der Tür, als ihm noch etwas einfällt.
»Hey!«
»Was?«
»Ich hab David vorhin gehört«, sagt Jules leise, als wäre das ein Geheimnis. »Wacho ist drauf, schlimmer als sonst«, sagt Jula, und dann geht Jules endlich, da kann man schließlich nichts machen, außer noch wütender werden, auf alles und die Gesamtsituation.
Ein überraschend regenfreier und nachtblauer Nachmittag folgt auf einen dunstigen Mittag und wird zu einem tiefschwarzen Abendhimmel, und zwar um kurz vor sechs. Es wird Abend, ohne dass es je richtig hell gewesen wäre, und
man bereitet sich auf die Versammlung vor. Tische, Stühle, Bänke und ein Tageslichtprojektor werden umgestellt und aufgebaut, Fässer gerollt, Schnitzel geschlagen, dann paniert. Alles ist bereit für Wacho und seine Versammlung, nur Wacho
Weitere Kostenlose Bücher