Bevor Alles Verschwindet
einfach nicht schön, sie hätte noch auf den Schaum warten sollen. Wacho sieht sie von der Seite an, Eleni muss jetzt etwas antworten. Am besten nimmt sie dafür seine Hand. Er zuckt zurück, lässt es dann aber doch geschehen.
»Ist schon gut«, sagt sie, so besonnen spricht sie sonst nur mit dem Meerschwein. Sie darf nicht abdriften, sie muss sich auf Wacho konzentrieren, wenn sie will, dass dieser Tag halbwegs normal abläuft. »War irgendwas dabei?«, fragt sie ruhig, ganz ruhig, gaaaaaaanz –
»Ja. Hier«, sagt Wacho. Er zieht den kleinen Brief hervor wie eine Rote Karte und knallt ihn auf den Tisch.
»Nicht dahin, das klebt doch«, ruft Eleni und nimmt den Brief in die Hand. »Darf ich?« Sie versucht zu lesen, kann aber nichts entziffern, die Karte ist nass vom Regen.
»Da steht: Ich bin bei dir«, ruft Wacho triumphierend.
»Martin«, sagt Eleni, »bitte nicht.« Aber Wacho ist nicht mehr zu bremsen, er ist wieder in dieser Phase, die kommt regelmäßig, manchmal schon im Dezember, meistens aber im Januar und ersetzt für ihn das, was für andere eine Winterdepression ist. Zwei, drei überschäumende Wochen lang ist er der Ansicht, Anna Wacholder werde zurückkommen, sich
wieder bei ihm niederlassen, ihr Kind nachträglich großziehen und Wacho auf den vorletzten Metern noch ein glückliches Leben bescheren. Diese Phasen, in denen Wacho kurzzeitig überschnappt, gehen vorbei. Das ist das Beruhigende daran und irgendwie auch das Traurige.
»Sie ist wieder da!«, ruft Wacho und: »Oder wenigstens ganz in der Nähe. Anna ist da!« Während er Eleni schüttelt, versucht die sich einzustellen auf eine anstrengende Zeit. Wachos Augen blitzen, sie muss sich beeilen, sie muss ihn jetzt und sofort auf den Boden holen, bevor er zu weit davonschwebt mit seiner seltsamen Theorie, die jeglicher Logik entbehrt.
»Martin, das ist ein Strauß für David. Er hat heute Geburtstag und es ist nicht unwahrscheinlich, dass dein Sohn eine Verehrerin hat oder sogar eine Freundin, in seinem Alter. Wie alt ist er?«
»Siebenundzwanzig.«
»Siehst du, siebenundzwanzig, in dem Alter hatte ich schon die Zwillinge –« Pause. Seufzen. Weiter: »-- da kann es sehr gut sein, dass David jemanden hat, der ihm zum Geburtstag etwas vor die Tür legt.« Wacho schüttelt den Kopf und krallt seine Finger fester in Elenis Arme.
Heute kommt Jula ihrer Mutter zu Hilfe. Mit einem Blech Schwarzweißgebäck betritt sie den Verkaufsraum, kippt die Kekse an ihren Platz und fragt beiläufig:
»Was ist das denn nun eigentlich, das mit der Flutung?« Eleni beobachtet, wie Wachos Blick klar wird, wie er wieder ankommt, hier in ihrer Welt, wenigstens für einen Moment:
»Heute Abend, zwanzig Uhr, im Tore. Macht bitte einen Aushang.« Wacho enteilt mit großen Schritten und lässt Eleni irritiert zurück.
Clara ist auf dem Weg in die Praxis und immer noch schlecht gelaunt. Der Dauerregen nervt sie, das Himmelsgrau, und als Wacho gegen sie läuft, kommt ihr das sehr gelegen.
»Was denkst du dir eigentlich?«
»Ehrlich gesagt fürchte ich, dass ich heute gar nicht denke«, sagt Wacho und läuft weiter. Clara seufzt, mit Wacho kann sie sich eigentlich gut und unverbindlich streiten, sie kennen sich schon lange. Wachos Frau, die damals noch seine Freundin war, hat ab und zu auf Clara aufgepasst, als die ungefähr in Maries Alter gewesen ist, und Wacho hat die Abendstunden gemeinsam mit Anna und Clara im Wohnzimmer abgesessen. Bei ihnen durfte Clara Erdnussflips essen und Videos gucken, Anna hat ihr erlaubt, ihr Sprühdeo zu benutzen, sie hat Clara gezeigt, wie man die Zukunft voraussagt anhand der Haarstruktur, und Wacho, der damals noch ganz und gar Martin war, ohne Bart und in gebleichter Jeans, hat über sie beide gelacht und so getan, als wären sie ihm zu albern. Aber in echt, das hat Clara natürlich erkannt, war er vollkommen vernarrt in Anna und fand rein gar nichts an ihr albern oder blöd. Clara wiederum war begeistert von den beiden. Eines Tages haben ihre Eltern ihr dann erklärt, dass Anna nicht mehr auf sie aufpassen würde, weil ihr »etwas passiert« sei. Clara bekam einen Schreck, weil sie dachte, dass Anna vielleicht irgendwo runtergefallen war und Claras Vater sie vom Krankenwagen abholen lassen musste, in solchen Fällen sagte er immer, es sei »etwas passiert«. Aber am nächsten Morgen begegnete Clara Anna auf dem Hauptplatz, und die war gut gelaunt und kein bisschen verletzt, und Clara war beruhigt und gleichzeitig
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