Bevor Alles Verschwindet
Turnschuhe und auch sonst kei
nen Zauber. So werden sie beide nass und stören tut das wie immer nur Jula. Sie gehen an der Linde vorbei, klatschen beide einmal am Stamm ab, erst sie, dann er, exakt auf dieselbe Stelle: »Bis später!« Die Welt rollt ihre Bahnen, alles ist wie gewohnt, doch dann entdecken sie auf der weißen Treppe zum Rathaus etwas Fremdes. Da liegen Blumen, ein riesiges Bouquet.
»Die sind bestimmt vereist über Nacht«, sagt Jules.
»Wer macht denn so etwas?«, fragt Jula, und sofort hat sie eine Idee: »Wahrscheinlich ist Wacho heute Nacht gestorben.«
»Und die Blumen sind von seiner heimlichen Verehrerin, die hat sich aus Kummer in den Brunnen gestürzt vorhin«, sagt Jules. Er ist froh, dass ihm so schnell etwas eingefallen ist. Sie lachen den Rest des Weges, laut und raumgreifend, und sie verstummen erst, als sie sich vor der Eingangstür verabschieden müssen. Wie immer dauert es eine Weile, bis sie es schaffen, sich voneinander zu trennen, selbst für ein paar Stunden. »Bis dann«, rufen sie einander schließlich zu, Jules dreht sich um, geht zur Arbeit, Jula heizt den Ofen an, schneidet die Teigstücke ein, und als sie um sechs Uhr das Licht im Verkaufsraum der Bäckerei anschaltet, steht Wacho schon da, in der Hand einen Strauß tropfender Blumen.
Es war keine gute Nacht: Marie hat plötzlich vor dem Bett gestanden und etwas von Monstern und Ungeheuern erzählt, immer wieder hat sie gerufen, dass ein blauer Fuchs aus dem Brunnen springt und dass sie nicht weiß, ob das gut ist oder schlecht. Clara ist auf den Fuchs nicht eingegangen, aber sie hat Marie gefragt, worin der Unterschied zwischen Monstern und Ungeheuern besteht, und auf einer klar formulierten und logisch durchdachten Antwort bestanden. Robert ist da anders, und während das Kind noch vor dem Bett stand und überlegte, begannen er und Clara sich wieder zu streiten, über Erziehung, aber auch ganz allgemein. Natürlich durfte Marie am
Ende zu ihnen ins Bett kommen, und damit verzichteten sie auf ihren Schlaf, das Kind schläft am liebsten quer und spricht dabei (Blutung, Fuchs, Blutung, Fuchs, Fuchs, Blutung).
Gegen fünf steht Clara auf, kocht Kaffee, starrt eine Weile aus dem Wohnzimmerfenster, auf die Stelle, auf der Mona nach Roberts Aussage gestern von einem Auto angefahren wurde. Dort unten kleben die Reste einer überfahrenen Kartoffel, unter der Laterne glitzern die Splitter aus Monas Brille. Ein Glück, dass ihr nichts in die Augen geraten ist. Dass Robert sich gestern nicht dazu bequemt hat, seinen Fensterplatz zu verlassen, um nach Mona zu sehen, ist eine Sache, aber dass er Clara erst im Bett von dem Vorfall erzählt hat, das macht sie wütend, und zwar so richtig.
Um halb sieben betritt Eleni Salamander die Bäckerei. Wacho krallt sich an einen der Plastiktische, trinkt einen Kaffee, wieder schwarz, dafür ohne Schuss, und isst ein Butterhörnchen mit Margarine und Honig. Die kleinen Plastikschälchen kleben mit Krümeln auf der Tischplatte, es sieht aus, als hätte Wacho sein Frühstück geschlachtet.
Wacho murmelt wirr vor sich hin, betrachtet dabei den überdimensionalen Blumenstrauß, der vor ihm auf dem Tisch liegt und von dem Regenwasser rhythmisch auf den Boden tropft.
»Was machst du denn hier?«, fragt Eleni ihn und wirft ihrer Tochter einen warnenden Blick zu.
»Ich kann nichts dafür«, sagt Jula, »und die Blumen sind auch nicht von mir.« Sie leiert den Satz herunter, sie hat es Wacho bereits mehrfach versichert.
»Nein, die Blumen sind nicht von dir«, sagt Eleni leise und dann zu Wacho: »Martin, wie kann ich dir helfen?« Wacho schüttelt den Kopf wie in Zeitlupe, ohne die kleinste Beschleunigungsphase, ohne Wackeln, es ist ein ganz und gar konsequentes Hinundherbewegen des Kopfes. Ihm kann nicht ge
holfen werden, das ist klar. Eleni schaut wieder zu ihrer Tochter und die zieht sich schnell in die Backstube zurück, um die Kaiserbrötchen zu inspizieren und Baisers zu spritzen.
Hinter der Verkaufstheke drückt Eleni auf die Cappuccinotaste, meditiert zwei Minuten lang über dem Knirschen, dem Zischen, zieht die Tasse aber rechtzeitig weg. Dann gesellt sie sich zu Wacho an den Stehtisch:
»Das sind sehr schöne Blumen.«
»Für David, er hat ja heute Geburtstag.«
»Ja«, sagt Eleni, als hätte sie das gewusst.
»Wenn sie nicht von Jula sind, sind sie vermutlich von seiner Mutter«, sagt Wacho.
Eleni rührt Sojamilch in den Kaffee. Dass das immer flocken muss, das ist
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