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Bevor Alles Verschwindet

Bevor Alles Verschwindet

Titel: Bevor Alles Verschwindet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Scheffel
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steht unten am Brunnen, dort, wo sie sich vorhin voneinander verabschiedet haben, und im Licht der einsamen Laterne blickt er zu David hinauf. Milo geht es gut, er scheint für alle Wetter gemacht und ganz besonders für David, und der tritt vom Fenster weg, zieht die Gardinen nicht vor, legt sich wieder ins Bett. Ihm ist der Name herausgerutscht, da war er beim Einschlafen, über der Geschichte vom Piraten Grimm hat er vergessen, vorsichtig umzugehen mit seinem Wissen über Milo. Wenn Wacho nun den Namen weiß, wenn er ihn sich bis morgen merkt und ihn selbst laut ausspricht, wenn er Milo entdeckt, nur weil David nicht aufgepasst hat, wenn Wacho dafür sorgt, dass er ihn wieder verliert, dann war's das. Heute Nacht wird er sich bemühen, gut zu schlafen, und hoffen, dass nichts passiert, dass Wacho vergisst. David wird nicht von seinem Vater träumen, nicht wieder davon, wie Wacho sich vom Dach des Rathauses stürzt
und dabei bereut, dass er sich nicht in den Keller gewagt hat, um vorher seine Flügel zu holen.
     
    Jeden Morgen hat Jules eine Gänsehaut, wenn er die Treppe aus seinem Dachzimmer hinabsteigt. Das liegt nicht daran, dass er nur ein T-Shirt und eine dünne Pyjamahose trägt. Er hat sich abgewöhnt, ins Zimmer zu stürzen und Jula die Decke wegzuziehen. Dreimal klopft er leise an ihre Tür, öffnet sie, tritt ein, huscht durchs fahle Winterlicht zum schmalen Bett und legt sich neben seine Schwester. Sie schläft auf dem Bauch, mit dem Gesicht tief im Kissen, ein Wunder, dass sie nicht erstickt. Sie haben darüber gesprochen, über seine Angst, wenn sie so liegt. Jula hat ihn beruhigt: »Mir kann nichts passieren, niemals.« Das hat er ihr geglaubt, aber nur, weil ihm nichts anderes übrigblieb.
    Er streicht ihr nicht das Haar aus dem Gesicht, es klemmt fest, er wartet. Sie atmet. Jules versteht nicht, warum er da hochmusste, der Umzug ins Dachgeschoss ist für ihn immer noch eine Verbannung, aber so einfach ist das nicht.
    Er spült sich den Mund mit Cola aus, dicht an ihrem Ohr flüstert er, »Wach auf«, aber wie immer ist sie schon wach, wenn er die Treppe herunterkommt, und wenn er dann neben ihr liegt und seine zwei Worte sagt, antwortet Jula, und das sagt sie auch jetzt:
    »Bin schon wach.«
    »Gut«, sagt Jules und: »Ich dachte schon.« Jula grinst, sie kneift ihn in den Arm, gerade so, dass es nicht wehtut.
    »Warum sind in diesem Ort eigentlich nur Spinner versammelt?«
    »Bist du auch einer?«, fragt Jules, kneift zurück, und Jula sagt:
    »Wahrscheinlich.«
    Gemeinsam liegen sie noch fünf Minuten und betrachten den Schrank, an dem kleben noch immer die Fußballbilder.
Sie hatten kein Sammelalbum, aber alle Aufkleber, die meisten doppelt und dreifach. Ein Torwart ist fünfmal halb weggekratzt, von dem hat Jula gesagt, dass sie ihn heiraten will, und Jules hat gesagt, »Heiraten ist doch bescheuert«, und am nächsten Tag war die Hälfte des Torwarts verschwunden.
    »Na ja«, sagt Jules, Jula gähnt und streckt sich.
    »Stehen wir auf?« Er schüttelt den Kopf, zieht die Decke über sie beide, sie haben ein Zelt und Jula tut so, als wäre sie wütend, muss aber lachen. »Blödmann, lass mich raus!« Jetzt kommt die Nummer mit dem Kitzeln, und dann fällt er aus dem Bett und die Decke schmeißt sie ihm hinterher und ein Kissen an den Kopf, wenn er nicht schnell genug ist, wenn er nicht bei drei das Zimmer verlassen hat. Dann geht er duschen und sie später auch. Jeden Morgen dasselbe.
     
    »Milo«, murmelt Wacho am Frühstückstisch, er denkt: Milo und Flussaufwärts ahoi und David und Scheiße, der Ort. Wacho trinkt seinen Kaffee heute schwarz und mit Schuss. Der Tag, an dem Anna fortging, war einer wie dieser, ohne Konturen. Bis zum Mittag war der Tag grau, dann kam die Sonne heraus, und als Wacho wieder aus dem Keller auftauchte, war ihr Stuhl am Fenster leer. Es gab keinen Brief, keine Hinweise, es gab nur noch den Jungen und ihn. Annas Abwesenheit ist vorübergehend, er muss sich nicht sorgen, aber seit zwanzig Jahren sorgt er sich und heute besonders, seit er den Namen hat, seit er Milo denken muss, ohne zu wissen, wer das ist, seit er wieder Angst hat vor allem und mit dem Rücken unmöglich zur Kellertür sitzen kann.
     
    Zumindest ein bisschen Morgentau, ein Sonnenstrahlenbombardement und verrückt gewordene Singvögel hat Jula sich für nach dem Frühstück gewünscht, stattdessen gibt's eine Nachtverlängerung, Regen auf den Kopf wie seit Tagen schon, keinen Schirm, durchweichte

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