Bevor Alles Verschwindet
selbst, der ist es nicht.
Auf dem Friedhof stehen die Gräber still, und Greta Mallnicht verteilt die Meisenknödel. Über einem Grab hängen stets mehr als über jedem anderen. Es ist Ernsts Grab. Die Knödel hängen da, damit er Gesellschaft hat, damit für ihn auch im Winter, wenn schon nicht gesungen, so doch zumindest gefiept wird.
Greta trägt ihr Lieblingskleid, darüber den dicken Mantel, den weichen Schal, sie hat drei Strumpfhosen an und Ernsts Winterstiefel. Sie friert nicht, wenn sie beschäftigt ist, Greta fröstelt nur abends im Bett, dann denkt sie an Hermine, an Luise und den stolzen Karl, die gemeinsamen Feiern, an Mettbrötchen und Eierlikör. Denkt sie an Ernst, fragt sie sich plötzlich, wo sie eigentlich hingehört. Dabei weiß sie doch: Das hier ist ihre Welt, auch wenn die Zeit, in der sie Hauptrollen spielte, längst vorbei ist.
Mit dem Jungen ist er fertig, mit dem Feiern, dem fröhlichen Brimborium, das er extra für seinen Sohn vorbereitet hat. David verbarrikadiert sich in seinem Zimmer. Es gibt keinen Schlüssel, so wie es sich anhörte, hat er das Bett oder den Schreibtisch vor die Tür unter die Klinke geschoben.
Wacho sitzt am abgefeierten Küchentisch und überlegt, ob er die Möbel aus Davids Zimmer entfernen soll. Es wird trist wirken, aber ihnen beiden viel Kummer ersparen. Wachos Blick fällt auf die Küchenuhr mit den glücklichen Milchkühen, ein Werbegeschenk des Bauern aus dem nächsten Dorf und noch dazu ein Bestechungsversuch, wenig subtil, man könne doch, nur mal so, über Direktlieferungen nachdenken,
das sei alles biologisch und einwandfrei. Was hat er schon zu sagen, er ist nur der Bürgermeister. Der kleine Joghurt jedenfalls steht auf der Sieben, die Milchkanne macht eine Pause auf fünf nach. Wacho wiegt das Brotmesser in der Hand, eigentlich sollte er sich um die Versammlung kümmern, als ehrenamtlicher Bürgermeister muss er sein Amt ernster nehmen als sonst irgendwer, denn wenn die Ehre verloren geht, was bleibt dann noch?
David hat gesagt, er warte auf Milo. Wer um Himmels willen ist Milo? Wacho kennt jeden hier, er wüsste von diesem Milo, wenn es ihn gäbe. David darf jetzt auf keinen Fall den Verstand verlieren, Wacho braucht ihn, in den nächsten Monaten mehr denn je. Dass Wacho mit diesem Milo nichts zu schaffen habe, hat David vorhin gesagt, aber das kann nicht sein, es gibt niemanden, der nur für David existiert. Wacho weiß alles über David, er weiß, wer sich in die Nähe seines Sohnes wagt, und andere Menschen als die im Ort kennt David nicht. Dieser Milo kann also gar nicht sein, denkt Wacho und fährt zusammen, als er einen Luftzug spürt.
In der Kellertür steht jemand, Wacho springt auf, in der Hand ein Messer. Da steht ein Fremder, nasetropfend, großäugig, blass und blaugefroren, und die gelbe Diele leuchtet lebenslustiger denn je, weil sie beweisen will, dass der da nicht hierhergehört, in dieses überheizte Idyll. Ein Alptraum von einem jungen Menschen, und Wacho weiß natürlich, dass die Tür nicht auf war, dass der Kerl einfach eingedrungen ist.
»Was willst du?«
Als der Kerl zur Treppe nach oben zeigt, ist Wacho kurz davor, das Brotmesser nach ihm zu werfen. Er beherrscht sich, setzt sich sogar wieder hin. Wacho sagt und er sagt es sehr leise: »David bleibt hier, um kurz vor acht gehen wir zusammen rüber, ins Tore.« Dieser Kerl wagt es tatsächlich, den Kopf zu schütteln und zur Treppe hinüberzuspähen. »Um acht hat er einen Termin«, sagt Wacho, dem nicht einfällt, wie er den
Eindringling gewaltlos aufhalten könnte, immer wieder ein Blick auf das Messer, und immerhin: eine letzte Option.
»Zieh die wenigstens aus«, sagt er dann kraftlos und deutet mit dem Messer auf die schlammigen Lederschuhe des Jungen. Der Fremde nimmt Wacho das Brotmesser aus der Hand und setzt sich zu ihm an den Tisch.
»Was hast du vor, willst du mich umbringen?« Wacho ist nicht alarmiert, er ist vor allem müde und nichts würde er sich in diesem Moment mehr wünschen, als dass dieser Kerl ihm mit dem Brotmesser im Herzen herumstochert. Der gehört bestimmt zu der Sorte, die zu allem bereit ist, zu allem möglichen, was hier niemand braucht. Aber vielleicht brauchen sie diesen Unbekannten ja doch und gerade jetzt, so kurz vor dem Untergang kann vielleicht auch ein verrückter Schatten nützlich werden, einer, der sich für nichts zu schade ist und der kurzen Prozess machen wird, mit ihm, dem ehrenamtlichen Bürgermeister, der sich vor
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