Bevor Alles Verschwindet
sieht erst Clara an und dann hinauf zur Tür. Da hängt ein Schild, eine Botschaft:
Wichtig, und zwar für alle:
Heute Abend, 20 Uhr, im Tore.
(Es geht wahrscheinlich um die Flutung.)
Clara schüttelt den Kopf, der blaue Fuchs nickt, er huscht an David vorbei, der einsam am Brunnen steht, und springt hinab in den Schacht, aus dem er wahrscheinlich auch aufgetaucht ist, ja, aus dem Brunnen ist er gekommen und aus Maries Phantasie.
»Ein Croissant, Nuss-Nougat bitte«, sagt Clara zu Eleni, ohne sich anmerken zu lassen, dass sie gerade aus der Fassung geraten ist.
Das war ja wohl klar, dass der Fuchs denkt, dass er blau ist. Er hätte pink werden sollen, aber Marie war immer wieder der Stift abgebrochen, ihr Lieblingsstift, viel zu kurz ist der schon. Blau war auch schön, ein blauer Fuchs auch gut, und Marie steht am Fenster und winkt ihm hinterher. Er wohnt im Brunnen, und Marie sieht ihrer Mutter nach, die heute einen dieser Tage hat.
»Kindergarten, Marie«, sagt Robert und hebt sie vom Fensterbrett, sie darf auf seinen Schultern reiten bis zur Küchentür, dann setzt er sie ab.
»Wann kommt Mona zurück?«, fragt Marie. Sie hat heute Nacht von der Blutung geträumt, sie kann sich nicht vorstellen, dass man so etwas überlebt.
»Ich weiß nicht«, sagt Robert und: »Malst du heute mal etwas anderes als diesen Fuchs?« Marie schüttelt den Kopf. Der Fuchs gefällt ihr, Füchse kann sie gut.
Zum Mittag sitzen sie gemeinsam am Tisch und Wacho serviert Davids Lieblingsessen von früher, Klopse mit Tomatensauce und Essigpommes. Wacho erwartet einen Begeisterungssturm, David begnügt sich mit einem »Schmeckt«. Das ist schon viel und das heißt nicht, dass er ein Gespräch anfangen will. Ihm ist das Glänzen in Wachos Augen aufgefallen, das kennt er, es ist wieder Zeit für die Phase, sie wird anstrengend, sie wird vorbeigehen, er hält das aus. David hat seine Arbeit und die Zeit am Brunnen mit Milo, und niemand kann ihn dazu zwingen, seinem Vater dabei Gesellschaft zu leisten, wie der wahnsinnig wird, und auf seine Fragen zu antworten.
»Wünschst du dir etwas?«, fragt Wacho, und David schüttelt den Kopf. »Jeder wünscht sich etwas«, sagt Wacho, »das ist erwiesen. Ich zum Beispiel –«
»Ich habe alles«, sagt David.
»Ja«, strahlt Wacho, »du hast mich und deine Mutter.« David nickt und schüttelt den Kopf und steht auf und geht noch mal vor die Tür, denn da wünscht er sich was, aber da ist nichts und am Brunnen steht niemand mehr.
»Deine Mutter hat dir Blumen vor die Tür gelegt«, sagt Wacho, er zieht David in die Diele zurück. »Aber die sind erfroren, dabei hatten wir keine Minusgrade, es hat geregnet heute Nacht, aber die Blumen sind trotzdem vereist. Es war auch ein Brief bei den Blumen, in dem stand etwas sehr Schönes, die Wahrheit nämlich, mein Sohn. Sie ist da, deine Mutter ist bei dir, bei uns, auf jeden Fall ist sie zurück!«
»Das denkst du dir aus«, sagt David und schiebt seinen Vater zur Seite, gegen die Hausschuhaufreihung, gegen die Zieh-dich-bloß-warm-an - Sicherheit der Garderobe und gegen die sonnengelbe Vliestapete.
»Wir könnten uns ein bisschen unterhalten«, schlägt Wacho vor. David sieht sein Gesicht nicht, eine alte Regenjacke hängt davor, aber sein Vater lächelt. Er behandelt ihn wie
ein Kind, aus Rache für etwas Unausgesprochenes, das bereits eine abgeschabte Raufaser lang Vergangenheit ist.
»Komm, David, wir setzen uns in die Küche und reden ein bisschen, wir könnten einen Sekt trinken zur Feier des Tages, und ich muss dir auch noch etwas sehr Schlimmes sagen.« Wacho will David greifen, ihn womöglich an der Hand nehmen und in die Küche zerren, ihn mit Sekt betrunken machen, um dann seine Theorien über ihm auszukippen. Er wird verlangen, dass David versteht und dass er alles so sieht wie Wacho, ein ganzes Leben soll David ihm abnehmen. Aber David will nicht, auf keinen Fall will er mit seinem Vater zusammensitzen, und er will vor allem kein Vater-Sohn-Gespräch führen. Lieber zurück ins Bett, schlafen, und am nächsten Morgen ein Jahr Schonfrist bis zum nächsten Geburtstag, bis zum nächsten Piratenmärchen und vielleicht bis zu Wachos nächstem Anfall. Und deshalb muss David sich wehren, gegen das Mitgezogen- und gegen das Abgefülltwerden, gegen noch einen Tag allein mit seinem Vater.
»Ich muss arbeiten, ich kann jetzt nicht«, sagt David.
»Doch«, brüllt Wacho, »du kannst!«, und dann packt er seinen Sohn, wirft ihn sich
Weitere Kostenlose Bücher