Bevor Alles Verschwindet
der abendlichen Versammlung fürchtet, vor einer seiner wenigen Pflichten.
Wacho starrt ihn auffordernd an, aber der Fremde rührt sich nicht, sein Blick ist weich, fast sanft.
»Mach ruhig, du Wicht, stich nur zu«, ruft Wacho. Es muss den Typen doch provozieren, wenn man so mit ihm spricht, immerhin hat er ein Messer in der Hand und ist zu allem bereit, und warum dann also nicht einfach ein Messer in einen unbequemen Menschen stecken, der ohnehin keinen Sinn und Zweck mehr erfüllt? Der Unbekannte öffnet den Mund, sagt nichts, lässt die Waffe auf den Tisch fallen, als bemerke er sie erst jetzt. Wacho seufzt enttäuscht. Er greift sich das Brotmesser und drückt es dem zurückhaltenden Verrückten erneut in die Hand. Wacho erwartet, dass das Messer durch die Finger rutscht, der Unbekannte sich in Luft auflöst, dass er wieder in den Keller zurückkehrt, in den er gehört. Alles, was Wacho Angst macht, wird in den Keller verbannt.
Der Kerl sieht das Messer an, dann Wacho, als ob der der
Eindringling wäre, der Irre mit der Waffe in der Hand. Wacho muss lachen, wie armselig ist das denn, der kann es an Armseligkeit sogar mit ihm aufnehmen.
»Na, was wolltest du? Sprich doch, mein Lieber, ich hör dir zu«, presst Wacho zwischen den Zähnen hervor. Er ist begeistert von der Situation. Wieder öffnet der Fremde den Mund, wieder flüstert er etwas, leise und unverständlich. Der Kerl sieht aus, als würde er gleich anfangen zu heulen, und Wacho würde am liebsten in die Hände klatschen und mit den Füßen trommeln. Er muss sich unbedingt beherrschen.
»Mach schon!«, zischt Wacho. Er nimmt die fremde Hand, die das Messer umklammert wie einen Blindenstock, und führt sie an seine Brust. Langsam kriecht der Frust, der sonst im Bauch sitzt, in seinen Kopf. Was soll das, warum lässt der ihn warten? Er spürt, wie der Fremde versucht, ihm seine Hand zu entziehen, und drückt fester zu. Wacho kann mit seiner Hand einmal um das Handgelenk greifen, es fühlt sich nicht richtig an und trotzdem kann er nicht loslassen. Der Blödmann lässt das Messer erneut auf den Tisch fallen. Jetzt ist Wacho richtig wütend, greift an dem dürren Arm hoch und schlägt die Hand mit aller Kraft auf den Tisch. Es knackt sogar, aber wahrscheinlich ist es der Tisch, nicht der Unbekannte.
»Du bist dieser Milo, nicht wahr?« Der Kerl schaut ihn an mit zusammengepressten Lippen, kein unhörbares Flüstern mehr, nicht mal das. Wacho sinkt in sich zusammen, als die Wut verschwindet.
»Es tut mir leid«, sagt er, während er die schlappe Hand loslässt. Milo sieht auf den Tisch, sein Arm liegt darauf, als hätte Wacho ihn abgesägt, schon verfärben sich die Finger, aber Milo bleibt stumm. Wacho legt den Kopf auf die Tischplatte und schlägt seine Arme darüber zusammen. »Willst du Bürgermeister werden?«, fragt er in den Raum hinein. Es kommt keine Antwort und Milo bewegt sich nicht. »Putz dir die Na
se«, murmelt Wacho und: »Ich bin nur ein bisschen verzweifelt. Aber das verstehst du wahrscheinlich nicht.« Oben geht David durchs Zimmer, unten in der Küche hört man seine Schritte, er schiebt den Schreibtisch zur Seite oder den Tisch, öffnet die Tür, kommt die Treppe herunter und tritt in die Küche. Wacho spürt Davids Hand auf seinem Arm, hört sein ruhiges: »Ich komme wieder, um kurz vor acht bin ich da.«
David geht zusammen mit Milo durch die Diele, zur Haustür und hinaus in die Kälte. Wacho wundert sich, dass sie nicht den Weg durch den Keller nehmen. Anscheinend kann Milo hingehen, wo er will, ist er nicht an die Unterwelt gebunden, aus der er hundertprozentig stammt. Wacho schüttelt den Kopf darüber, dass es auf der Welt Wesen gibt, die alle Freiheiten haben und überhaupt keine Angst. Er bleibt allein zurück, starrt auf das Pferdeemblem, starrt auf das Material, das ihm gestern die beiden fahlen Herren überreicht haben und das er den anderen heute Abend, in weniger als einer Stunde, erklären muss. Dabei versteht Wacho selbst nicht, was das alles zu bedeuten hat, wie er gleichzeitig so wütend, über alle Maßen, und so schrecklich traurig sein kann, und weil er nicht weiß, was er sonst tun soll, beginnt er zu lesen. Auf den anschaulich und hübsch mit Bildern und Statistiken versehenen Blättern erklärt die verantwortlich zeichnende Poseidon Gesellschaft für Wasserkraft , warum es dumm wäre, den Stausee nicht zu wollen. Wacho ist nicht überzeugt und immer wieder mischt sich ein Gedanke zwischen Worte wie
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