Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bevor Alles Verschwindet

Bevor Alles Verschwindet

Titel: Bevor Alles Verschwindet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Scheffel
Vom Netzwerk:
Devastierung, wie Abbruch, wie Talsperre und Baubeginn und Neubaugebiet: Er kennt Milo. Er ist ihm nicht so fremd, wie er dachte.
    Sobald sie auf der weißen Treppe sind, laufen sie los. Kein Blick für den Brunnen, keiner für Jules, der aus dem Lieferwagen springt, kurz zum Rathaus hinüberschaut, dann zu dem rennenden David und sich bei dessen Anblick doch für den direkten Weg ins Tore entscheidet.
    »Mein Vater ist nicht immer so«, ruft David im Laufen. Milo antwortet nicht, er ist viel schneller als David und der ist einfach froh, dass es Milo immer noch gibt und er ihn sich gestern nicht nur eingebildet hat wie so vieles zuvor. Sie lassen den Hauptplatz hinter sich, die anderen weichen ihnen aus, der Ort ist auf dem Weg zu seiner Versammlung, alle gehen hin und die Häuser beugen sich vor und die Straßen wölben sich auf, um näher dran zu sein, am Tore, wo heute etwas Wichtiges verkündet wird.
    »Du rennst in die falsche Richtung«, ruft Robert David hinterher, und der hört Roberts Lachen noch, als sie in das Waldstück hineinstürzen. Milo sieht sich immer wieder zu David um, mit laufender Nase und ein bisschen mehr Farbe im Gesicht als vorhin in der Küche, als er ihn zum ersten Mal zu Hause besucht hat. Seinen Pullover hat Milo bis über die Hände gezogen, er hält den Stoff mit den Fingerspitzen fest und beißt sich auf die Lippen. David kann nicht erkennen, wie schlimm es ist und was sein Vater da mit Milo gemacht hat, aber rennen kann Milo noch, und hoffentlich ist sein Rennen keine Flucht.
    »Um kurz vor acht muss ich wieder da sein«, ruft David. Er sieht sich und Milo schon aus dem Ort laufen, über die unsichtbare Grenze hinweg, an der Bushaltestelle vorbei, am Ortsschild, den Berg hinauf, aus dem Tal heraus, durch die fremden Wälder, die er vom Fenster aus sehen kann, und dann immer weiter, bis zu einem dieser merkwürdigen Ziele, die mancher hier heimlich hütet, die David aber völlig unvorstellbar sind. Als Milo vorsichtig ein quietschendes und in seinen Angeln rostendes Tor öffnet, als sie nebeneinander einen überwucherten Pfad von vor fünfhundert Jahren entlanggehen, als ihnen wilder Farn an die Beine klatscht, als Milo nasse Äste beiseitebiegt und den Blick freilegt, weiß David, dass sich das Warten gelohnt hat.
     
    Clara, Robert und Marie Schnee kommen; die Kindergärtnerin kommt; Eleni und Jeremias Salamander kommen nur mit der kajalumrandeten Jula, weil Jules schon da ist; die Wühlmäuse Leon, Mia und Paul dürfen nicht kommen, aber ihre Eltern treten gemeinsam ein; Wacho kommt ganz zum Schluss, kurz nach Greta Mallnicht und ohne David. Da sind noch andere Menschen, es gibt noch knapp hundert Einwohner, ein Großteil von ihnen wird in wenigen Wochen verschwunden sein.
    Da sitzen sie zusammen, die letzten hundert, und warten darauf, dass Wacho seine Eröffnungsworte in die bullige Wirtshauswärme schiebt. Der Abend gehört in die Chronik des Ortes, aber die wird nach diesem Tag nicht weitergeführt. Anstelle des für Trauerfeiern üblichen Hefegebäcks kommen Schnitzel zum Einsatz, werden statt Kaffee, Bier, Punsch und Schnäpse ausgeschenkt. Der Kamin knistert.
    Stimmengewirr, das Akkorden folgt, Beinwippen, Knochenknacken, Nasehochziehen, Gesichtszuckungen, mehr als ein Schluck zu viel an mehr als einem der Eichentische. Da fällt ein Glas um und da folgt dem ein Tablett, hinaus aus schwitzenden Händen, hinab auf die schmierigen Dielen. Da hätte David das aber besser gemacht. Da liegen angebissene Schweinsstücke neben faserigen Bierdeckeln, da schläft in der Ecke ein Kind, das für das alles wohl noch zu jung ist, aber schlafen können sie überall, die Kinder und Alten, und so schlafen Marie Schnee und Greta Mallnicht, die eigentlich fragen wollte, ob es möglich sei, die Polierung des Kreuzes von April auf einen Tag kurz vor dem Jahrhundertfest zu verschieben, in der Ecke, neben dem Lindenbild aus den schmalen Kindertagen des Baumes, kurz nachdem ihn vor etwa hundertfünfzig Jahren ein damals noch hauptberuflicher, d.h. ein bezahlter, d.h. ein ernst genommener Bürgermeister als Symbol in die Hauptplatzerde gesteckt hat. Da wird das Tuscheln immer lauter, da sprechen einige bereits von Neuwahlen.
    »Wo ist eigentlich David?«, fragt der Wirt leise. »Sag ihm, wenn ich mich nicht auf ihn verlassen kann, such' ich mir jemand anderen.« Wacho nickt, gibt sich endlich einen Ruck. Er wollte auf David warten, aber der Junge hat ihn im Stich gelassen. Er muss das allein

Weitere Kostenlose Bücher