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Bevor Alles Verschwindet

Bevor Alles Verschwindet

Titel: Bevor Alles Verschwindet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Scheffel
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schaffen, und es ist ihm egal, ob er diese Versammlung übersteht, heil und ganz ist Wacho ohnehin nicht mehr. Es ist ein Ruck, der Wacho wieder ins Blickfeld der anderen rückt und sie daran erinnert, dass diese Zusammenkunft ein anderes Ziel hat als einen warmen Punsch in der Hand und ein sonntägliches Stück Fleisch im Bauch, und das zu früh, nämlich an einem Freitag.
    »Was denn nun, Wacho«, ruft Robert Schnee, einen schweren Bierkrug in der Hand und einen unerbittlichen Ausdruck im Gesicht. »Wenn du nichts sagst, dann sag ich was«, ruft Robert und erntet dafür Applaus aus Richtung des Stammtischs. Robert krempelt seine Ärmel hoch, steigt auf den Tisch und lässt sich von Clara nicht aufhalten, erst recht nicht von der, die ohne Pause »Robert bitte, bitte Robert, ich bitte dich, Robert« zischt und damit nichts ausrichten kann, gegen seinen großen Auftritt, so viel Publikum wie noch nie, und die einmalige Chance, die sie nichts angeht, sie gehört ihm ganz allein. Robert Schnee breitet die Arme aus wie die Kollegen der alten Schule und an den großen, den überbewerteten Häusern. Robert ruft:
    »Ich lade euch ein! Kommt alle zu meinem Stück, ich gebe den König eines wichtigen Dramatikers. Ich spare mir alle Nebenfiguren, ich bin nur der König, aber was für einer! Morgen also, im Theater und natürlich um acht. Kommt alle. Ihr werdet es nicht bereuen!«
    Im Raum herrscht gespannte Erwartung.
    »Warum sind wir eigentlich hier, Wacho?«, fragt Clara in die Runde, um von ihrem Mann abzulenken, nicht, weil es sie interessiert. »Komm da jetzt runter!«, zischt sie Robert an, während alle anderen auf Wacho warten, und tatsächlich
gehorcht ihr Mann, und als er wieder neben ihr sitzt, küsst er sie sogar auf den Mund, das hat er schon lange nicht mehr getan.
    »Ich wollte nur die Chance nutzen.«
    »Ich weiß«, flüstert Clara und nimmt seine Hand. Sie warten gemeinsam darauf, dass Wacho endlich etwas sagt, und Wacho tritt vor und spricht, sie haben es so gewollt, nicht er. Er selbst wollte zu Hause bleiben, zusammen mit David, in Ruhe auf Anna warten, seit gestern will er das, seit dem Besuch der Wassergötter mehr denn je.
    »Mach bitte das Licht aus, Jules«, sagt Wacho. Jules steht betont langsam auf, schlurft auf seinen abgewetzten Turnschuhen zum Hauptschalter, stolpert nicht über das offene Schuhband, schaltet aus, schaltet ein, und als es endlich dunkel ist, startet Wacho den Tageslichtprojektor, und der wirft flackernde Fakten an die Wirtshauswand.
    Da präsentiert sich ihnen die Lage des Ortes, wie er faul und zufrieden in seinem Tal herumhängt, da sind Linien, die für die Gegenwart stehen, die wohlbekannte Hängemattenstruktur ihres Alltags. Wacho legt eine zweite Folie auf. Da leuchtet jetzt ein ganz neuer Wasserstand, da flirrt an der Wand das, was nun kommen soll, nach den Plänen der Poseidon Gesellschaft, der geheimnisvollen Verantwortlichen, und nach dem Willen ganz anderer Leute, die sich im Hintergrund halten. Eine anonyme Mehrheit will mitten im Inland ein Meer, für die Energiegewinnung oder Trinkwasserversorgung höchstwahrscheinlich, oder die Sicherheit vielleicht oder die Gebietserschließung in Form eines attraktiven Naherholungsgebietes, oder aus irgendwelchen anderen Gründen. Sie wollen oberhalb des Ortes eine gigantische Mauer bauen, die die Traufe stauen soll. Wacho versteht das nicht und vermutlich interessiert es ohnehin niemanden der hier Versammelten, dieses fremde Wie und Warum. Wacho spult den Plan ab, so gut er das kann, spricht von »Markierungen«, »Rodung«,
»Translokation«, von »Abbruch« und »Energie« und »Naherholungsgebiet« und »Staumauer« und »Umsiedlung«. Er sagt ihnen, dass der Ort untergehen wird, durch den gestauten Fluss, in einem sehr großen See, dass mit dem Bau der Staumauer, dass mit den Maßnahmen sofort begonnen wird. »Maßnahmen«, noch so ein Lieblingswort der beiden Fremden. Wacho gebraucht es, als wäre es ironisch gemeint. Er betont mehrmals, dass er für all das nichts kann, da müssen sie sich bei anderen beschweren, bei den wirklich Verantwortlichen.
    Ganz still ist es im Tore, es gibt keinen Aufschrei und kein Entsetzensgemurmel und keine Beschwerde, man starrt stumm, ein Rest Schweigen wird aufgeklaubt, übrig geblieben von diversen Katastrophen der Weltgeschichte, für diesen kleinen Ort an diesem Januartag.
    »Was ist mit dem Jahrhundertfest?«, fragt eine der vergessenen Stimmen, vielleicht ist es Greta, die fragt,

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