Bevor Alles Verschwindet
oder Eleni oder sogar Marie, die ist wieder wach, und gespannt heften sich alle Blicke auf Wacho, und der sagt nur: »Wir dürfen dem neuen Ort einen Namen geben.«
Während die Mehrheit der Bewohner, im kollektiven Schweigen gebannt, im Wirtshaus Bier, Punsch und Schnitzel in Ruhe lässt, fliegt David am Rande seiner Welt das Glück um die Ohren. Es hat in den letzten Stunden geschlafen, seit dem ersten Zusammentreffen mit Milo, und ist nun blitzartig aufgewacht, beim Gang durch dieses einsame Haus im schäbigen Rest eines Waldes, der für die meisten nur Brennholz für Oster-, Weihnachts- und für Freudenfeuer ist, der fast schon außerhalb liegt, aber eben nur fast. Ein Haus, das niemandem gehört, das ihr Haus werden kann, es eigentlich sogar schon ist. Es hat auf sie beide gewartet, all die Zeit, ist nur für sie vermutlich zurückgelassen worden in seinem Versteck, bis sie es wieder zum Leben erwecken würden.
Es ist winzig, aber alles ist da. Hier sind Architekten, Kunstschmiede, Fliesenleger, Glasbläser, Schreiner, Maurer, An
streicher, Maler und Lackierer auf kleinstem Raum völlig verrückt geworden: Milo und David schreiten, ohne einander zu berühren, durch die zwei schiefen Räume, einer unten, einer oben, über knarrendes Holz, an zersprungenen Buntglasfenstern vorbei. Sie atmen staubige Luft ein, die nach Zuhause duftet. Hölzerne Rahmen halten die Reste der Tiere, Pferde, Hunde, Füchse und Pfauen und ein sich aufbäumendes Einhorn aus smaragdgrünem Glas, direkt über der Eingangstür. Am Fuße der Treppe hinaus sitzt ein Löwe, ganz ähnlich dem vor dem Rathaus. Aber dieser hier schläft, er sieht friedlich aus.
Und oben: Zwischen den kahlen Bäumen hindurch der Blick auf die Häuser, in keinem brennt Licht. Die Welt ist egal geworden, und die Luke zum Dachboden lassen sie lieber geschlossen.
»Wer baut so was?«, fragt David, als sie vor einem gemauerten Kamin stehen. Milo sagt nichts, egal. Und jetzt traut David sich endlich, seine Hand zu nehmen.
In dem Moment, in dem David Milo in dem vergessenen Haus verspricht, immer bei ihm zu bleiben und sich um nichts und niemanden da draußen in der Welt, die der Ort war, zu kümmern, in dem Moment, in dem das Glück in David plötzlich beginnt, unbequem zu werden und gegen seine Innereien zu stoßen, weil man so ein Glück leicht verlieren kann, weil mit dem Glücklichsein auch die Angst vor dem Verlust all dieses Glücks kommt, in dem Moment knallt Jula in die Stille des Wirtshauses ein zorniges Wann. Und Wacho sagt: »In einem halben Jahr.«
Seltsamerweise nicken fast alle, beginnen ein paar sofort, dem Wirt beim Aufräumen und Einsammeln zu helfen, und die ersten verlassen das Gasthaus, noch bevor Wacho seinen Allzwecksatz anbringt:
»Einmal drüber schlafen, und morgen sieht die Welt schon ganz anders aus.«
»Und wie sie in einem halben Jahr erst aussehen wird«, flüstert Jula ihrem Bruder zu.
»Das wird schon«, flüstert Jules zurück. Er hat dabei einen ganz merkwürdigen Blick, einen, den Jula nicht kennt, und dabei hat sie bisher geglaubt, dass sie absolut alles weiß über ihn. Jules denkt ohne sie an etwas, das merkt sie ihm an.
Jeremias steht vor ihnen, aufmunternd klatscht er in die Hände. Er schlägt vor, nach Hause zu gehen, sich auszuschlafen. Morgen ist Samstag, da können sie sich erholen von dem Schock und überlegen, wie sie weitermachen. Jula steht auf, zieht auch Jules vom Stuhl und schleift ihn hinter Jeremias und der schweigenden Eleni her. Aus dem stillen Wirtshaus hinaus, über den Hauptplatz und nach Hause. Die Salamanders wandeln kopfhängend wie eine Trauergesellschaft.
»Das wird nicht geschehen«, flüstert Jula ihrem Bruder ins Ohr. Sie beide geben nichts her, sie halten fest.
»Ich spreche noch mal kurz mit Wacho«, sagt Eleni mit einer Stimme, die nach uraltem Kummer klingt.
»Soll ich mitkommen?«, fragt Jeremias. Jula findet, das klingt, als wäre ein Gespräch mit Wacho gefährlich, und Eleni schüttelt den Kopf.
»Geht ihr schon mal vor, ich schließe dann nachher die Tür ab.«
Einmal noch schaut Jula zurück, bevor sie ins Haus tritt. Wacho steht mitten auf dem Platz, seine Augen sind starr auf die kahle Linde gerichtet. Zum ersten Mal in ihrem Leben tut er ihr leid, mit seinem Wahnsinn, seiner Wut und seiner Ehrenamtlichkeit, die ihm im nächsten halben Jahr erst über den Kopf wachsen und dann unter viel zu viel Wasser eingehen wird. Nach dem Gründer, dem Vergrößerer, dem Baumpflanzer, dem
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