Bevor Alles Verschwindet
Anbinder, dem Weisen und dem Unauffälligen wird Wacho der Bürgermeister sein, der alles aufgegeben hat, der Kampflose, der Verräter vielleicht, zumindest für einige hier. Aber das ist sein Problem, dafür kann Jula nichts, und
schon gar nicht kann sie ihm helfen, schließlich wollte er Bürgermeister sein.
»Komm rein, es wird kalt«, sagt Jeremias, und Jula folgt ihrem Vater, drinnen wartet bereits Jules auf sie, im schmalen Bett liegt er und will von ihr wissen, wie das alles verhindert werden kann.
»Na«, sagt Eleni, »das war ja was.«
»Jetzt ist es ja vorbei.«
»Nicht so ganz«, sagt Eleni, obwohl sie ihn eigentlich trösten wollte.
»Ich geh dann mal«, sagt Wacho. Eleni könnte ihn festhalten, etwas sagen, das hilft, ihn ins Salamanderhaus einladen zu Tee oder Punsch. Eleni ist müde und erst jetzt, wo sie neben Wacho steht, wird ihr klar, dass sie nichts tun kann. Sie muss aushalten, was passiert. Sie alle müssen das, auch Wacho, ganz egal, was ihn sonst noch beschäftigt.
»Ein wenig Zeit haben wir ja noch«, sagt Eleni möglichst fröhlich, und auch Wacho setzt ein Grinsen auf.
»Ein halbes Jahr. Bis dahin ist Anna eh zurück und David hat sich eingekriegt. Uns hält hier nichts mehr, wenn sie nur endlich wieder da ist.«
»Na dann«, sagt Eleni müde, »dann hoffen wir mal.« Sie klopft Wacho noch einmal auf die Schulter, tritt aus seinem Dunstkreis heraus, sie ist froh, ihm keinen Punsch mehr angeboten zu haben. »Bis dann«, sagt sie und sieht hinüber zum Friedhof, sie zögert und geht dann doch in Richtung Zuhause, die Tür hinter ihrer Familie abschließen, die Schuhe abstreifen, sich zu den anderen ins Wohnzimmer setzen, sich nicht über Jula ärgern und nicht über den neuen Ring in deren Nase und nicht über ihre Stiefel auf dem Wohnzimmertisch und nicht über Julas Hand, die ewig die ihres Bruders festhält. Eleni nimmt sich vor, sich zu entspannen, an Jeremias' Schulter gelehnt, und solange das noch möglich ist, an gar nichts zu denken.
Sie schleppen sich nach Hause, die Bewohner, da schlurft Greta Mallnicht mit ihrem Neinneinnein, da gehen Clara und Robert Schnee Hand in Hand ausnahmsweise, er mit einem schlafenden Kind auf dem Arm und beide ohne Worte, da diskutieren die Eltern von Paul, Leon und Mia mit der Kindergärtnerin erst einmal ganz allgemein über das eben Gehörte, da verabreden sie sich für den nächsten Nachmittag auf ein Stück Kuchen und eine Tasse Tee, da bleibt Wacho auf dem Platz zurück und überlegt, ob er das gut gemacht hat, hat er, hat er nicht? Hat er schon, versichert er sich, und als er weitergeht, ist er plötzlich ganz ruhig, fährt über die Mähne des gähnenden Löwen, während eine schwarz-braune Katze an seinen Beinen entlangstreicht. Schließlich steigt er die weiße Treppe hinauf. Wacho wirft seinen Blick über den Platz, wie am Ende eines jeden Tages, aber heute ohne Stolz. Spätestens seit diesem Abend leben sie alle in einem Museum und er ist der Wächter, für einen Amtsrücktritt ist es zu spät. Morgen wird er sich beim Krankenhaus nach Mona erkundigen, die haben sie heute alle schon wieder ganz vergessen.
Und noch etwas hat er vergessen. Wacho eilt in die Diele, schnappt sich das Plakat, läuft über den Platz, rammt mit all seiner Kraft die zwei Pfeiler zwischen die Fugen des Kopfsteinpflasters, stellt sich auf die Schubkarre, fällt fast, schiebt das Plakat auf das Gestänge und geht dann wieder hinein. Da steht das Schild, das die Verantwortlichen ihm dagelassen haben:
Baubeginn sofort!
Das Schild hilft nicht dabei, zu begreifen. So etwas begreift man erst im Nachhinein und zwischendurch, ganz kurz, für ein, zwei Sekunden, angesichts eines Umzugskartons oder eines Haufens Schutt. Wacho hat seine Pflicht getan, das Schild steht, alle sind informiert. Was folgen wird, liegt nicht mehr
in seiner Hand. Sagt man doch so schön, wenn einem sonst nichts mehr einfällt, wenn man ein bisschen feige ist, wenn man andeuten will, alles versucht zu haben.
Er wirft sich aufs Bett, Wacho ist schrecklich müde. Er hat seinen Teil getan, er ist da raus, er hat getan, was er konnte, und es war nicht viel, er kann nicht mehr, er wartet und denkt an das, was unter dem Bett liegt, die Überraschung. Seit Jahren liegt sie dort, für David, aber er hat den richtigen Zeitpunkt verpasst, jetzt wird David sich nicht mehr freuen. Wacho wünscht sich, dass sein Sohn leise ins Zimmer tritt, ihm einen Tee mit Schuss auf den Nachttisch stellt,
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