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Bevor Alles Verschwindet

Bevor Alles Verschwindet

Titel: Bevor Alles Verschwindet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Scheffel
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das Licht löscht und behutsam die Tür hinter sich schließt. Aber David ist weg mit diesem Unbekannten, den er Milo nennt, der Wacho an irgendjemanden erinnert, an einen Menschen aus einer anderen Zeit.
    David hat die wichtigste Regel gebrochen: Er hat ihn im Stich gelassen. Jetzt wird die Welt untergehen. Anna, verdammt. Wacho ist der sicherste Moment ein für alle Mal abhandengekommen, und noch während er einschläft, steigt in ihm die alte Wut hoch.
    Greta
Weniger als ein halbes Jahr
    Das Lieblingsbild der Greta Mallnicht: Mit knackenden Gelenken erklimmt sie den Kirchturm, um das Kreuz zu polieren, wie es vor fünfzig Jahren noch ihr Vater getan hat und dessen Vater zuvor.
    Da das Kreuz der höchste Punkt des Ortes ist und das Erste, was man von ihm zu Gesicht bekommt, will Greta, dass es einen guten Eindruck macht. Greta und die anderen glauben nicht an den lieben Gott, sie glauben an den Ort. So stutzt Greta die Rasenränder und die Rhododendren, die Rosensträucher, die Thujen, und sie harkt Laub und sie verteilt Schutzstroh auf den Gräbern und sie hängt selbstgekochte Meisenknödel auf und legt einmal im Jahr einen davon aufs Grab von Monas Mutter, die hieß Marianne. Greta mochte ihre Art, die Vögel zu füttern.
    Greta spricht mit den Toten, die niemanden mehr haben, und erzählt, was an der Oberfläche vor sich geht. Dafür wird sie bezahlt und dafür gehört ihr auf Lebenszeit die kleine Nebenkapelle. Greta Mallnicht ist die Herrscherin über den Friedhof, sie ist an den meisten Tagen zufrieden und ab und zu sehr glücklich und allein ist sie nicht. Ihr Mann Ernst liegt auch hier.
    Gretas jährliches Lieblingsbild schrumpft seit der Versammlung gestern zu einem Noch-ein-Mal zusammen, vieles ist seit der Versammlung viel zu schnell zu einem Nur-ein-Mal-noch geworden, sie ist nicht die Einzige, die das so empfindet, aber das weiß sie nicht, noch vermisst jeder für sich allein.
    Greta sieht zum Kreuz empor und nimmt sich vor, es in diesem Jahr ganz besonders blank und glänzend zu schrubben. Sie wird noch ein Mal, nur ein Mal noch alles geben. Als sie den Kopf wieder senkt, entdeckt sie ihn. Er steht an der Friedhofspforte, wer weiß, wie lange schon. Greta ist seit Ewigkeiten keinem Unbekannten mehr begegnet, sie ist skeptisch und deshalb nimmt sie die Harke mit.
    »Was?«, fragt Greta mit Sicherheitsabstand. Der Unbekannte erinnert sie so sehr an jemanden, der er nicht sein kann, dass sie an ihrer Erinnerung zu zweifeln beginnt. Aber was soll sie machen, er hat dasselbe dichte Haar, die gleiche schmale Nase, den zu stark geschwungenen Mund. »Was?«, fragt Greta erneut, vorsichtig. »Was wollen Sie?«
    Greta hebt die Harke, vermutlich begegnet sie gerade einem Gespenst. Wenn er ein Gespenst ist, dann wird er jetzt nicht zurückweichen. Tatsächlich, der Fremde ist ein Gespenst, er rührt sich kein Stück, aber Greta entgeht nicht, wie sich seine Finger beim Blick auf die erhobene Harke fester in das morsche Holz des Tores pressen. Er will sie reinlegen, so viel steht fest.
    »Sie sind einer der Verantwortlichen«, ruft Greta. »Sie kommen hier nicht rein, mit Ihrem Beton, es ist noch nicht so weit, noch geht hier nichts unter. Verschwinden Sie, ich muss den Kies harken.« Der Unbekannte hebt entschuldigend die Hände, die Geste passt nicht zu ihm, er wendet sich ab. Er schlurft die Straße hinunter, die Arme um den Körper gewunden, ohne Jacke. Wäre er verantwortlich, dann würde er das Emblem tragen.
    »Moment«, ruft Greta, und es klingt barscher, als sie wollte. »Komm mal her.« Er kommt zurück, geht wie ein Schlafwandler. Seine Müdigkeit wundert sie nicht, er ist es und er ist quer durch die Zeiten gewandert, um wieder bei ihr zu sein. Es muss eine lange Wanderung gewesen sein, und er war zu langsam auf seinem Weg oder sie zu schnell mit ihrem ver
dammten Altwerden. »Da bist du wieder«, sagt sie, und er sieht so aus wie damals, ihr Ernst, als sie sich kennenlernten, wie auf der ersten gemeinsamen Fotografie, und Greta öffnet das Tor.
    Jetzt fängt sie an, wieder an alles zu glauben. Vielleicht wird die Angst vor dem Ende so groß, dass sie bereit ist, ganz zurück auf Anfang zu gehen und alles, was war, auf das Beste zu durchforschen, im Kopf nur noch Platz für das Gute, auf den Rest wird verzichtet, auch wenn da vieles verwoben ist und genaugenommen untrennbar. Vielleicht sieht sie in diesem Menschen nur noch, was sie sehen will, und nimmt die Details nicht mehr wahr. Greta möchte

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