Bevor Alles Verschwindet
heiser.
»Sag mir erst, wer der Kerl ist.«
»Milo«, ruft David. »Milo, einfach Milo, immer noch.«
»Wo kommt er her?«, brüllt Wacho. David könnte den Bus nehmen für seine Flucht, er darf ihn nicht rauslassen, der Bus fährt wochentags stündlich bis acht.
»Ich weiß es nicht«, flüstert David. »Er war einfach da, ist doch egal.«
»Er sieht aus wie jemand, den ich kenne, und ich glaube, du kennst ihn auch. Er ist gefährlich, spürst du das nicht«, sagt Wacho.
»Nein.« David klingt wieder wie damals mit sechs. »Nein, das spüre ich nicht.« Wacho seufzt und schließt dann doch die Tür auf. David wirft ihn nicht um, er steht vor ihm in denselben Klamotten wie gestern, als Wacho ihn eingesperrt hat. David ist erschöpft und verschwitzt. »Was sollte das denn?«, fragt er so, dass Wacho für einen Moment die Furcht verliert, David könne ihn allein lassen.
»Ich hatte Angst um dich.« David legt seinem Vater die Hand auf den Arm, er ist einige Zentimeter kleiner als Wacho und ein bisschen schmaler ist er auch, trotz der Wirtshausmuskeln. David müsste mal wieder zum Friseur, aber es gibt keinen mehr, und von Wacho lässt er sich ganz bestimmt nicht die Haare scheiden.
»Es ist okay«, sagt David, »ich bin da. Aber du musst aufhören mit dem Mist. Ich verdiene unser Geld und dazu habe ich auch noch ein Leben.« Wacho nickt. Er wird sich zusammenreißen, er wird nichts mehr sagen, auch wenn David in Gefahr schwebt und er mit ihm. »Ich gehe jetzt arbeiten, Geld verdienen«, sagt David ruhig und: »Vielleicht solltest du dich ein bisschen hinlegen.« Wacho nickt noch einmal, obwohl er das nicht tun wird. Er hat eine andere Idee, er will das Album suchen, das Album mit den guten Zeiten.
Wacho folgt David in die Diele, beobachtet, wie sein Sohn die alten Turnschuhe anzieht und die Winterjacke. Die Taschen sind ausgebeult, David trägt Geheimnisse mit sich herum.
»Das mit der Flutung«, sagt David, »das tut mir leid.« Wacho spannt den Rücken an, macht sich größer, er tritt einen Schritt auf David zu, der weicht zurück, legt die Hand auf die Klinke, und David ist bereit zur Flucht.
»Wer hat dir das erzählt?«, fragt Wacho. David sieht seinen Vater fest an, das hält er nur wenige Sekunden aus, er schaut auf die Garderobe, auf den Boden. »David?«, fragt Wacho. »War er das?« David schüttelt den Kopf.
»Keine Ahnung, alle reden darüber.« Was bedeutet es, dass David alles weiß und es nicht von Wacho erfahren hat, sondern von irgendwem anders? Wacho weiß plötzlich, was David in den Taschen hat, eine Jeans, einen Pullover, eine Boxershorts, ein paar Socken, irgendein Buch und sein Portemonnaie. Er ist vorbereitet, er will weglaufen, mit diesem Milo zusammen will er verschwinden, und in den Taschen ist Davids Hab und Gut, was immer das tatsächlich ist, Wacho weiß nicht genau, was für seinen Sohn einen Wert hat.
Bevor David reagieren kann, hat Wacho ihn wieder gepackt, zieht ihn am Kragen hinter sich her, hält ihn fest im Schwitzkasten, als David sich wehrt. Er schleift ihn die Treppe hinauf bis ins Zimmer, schließt zu. David ist gesichert. Es ist nur zu seinem Besten.
Sie haben sich nicht verabredet, aber als Greta um zehn Uhr beim Laden ankommt, warten schon etwa fünfzig Menschen vor der Tür, einer nach dem anderen sickert ins Innere, damit der Rest nachkommen kann. Greta stellt sich an, sie grüßt Robert und Clara Schnee, die mit Marie vor ihr in der Schlange stehen. Hinter ihr stellen sich Jula und Jeremias an.
»Guten Morgen, ihr beiden«, sagt Greta fröhlich. Jeremias besteht wie immer darauf, ihr kräftig die Hand zu schütteln, Jula nickt nur und pult dann weiter an dem Verschluss ihrer Umhängetasche. Greta schaut sich gern Familien an. Bis auf die Tatsache, dass sie beide groß sind und dieselbe Art haben, sich gelassen zu geben, ähneln Jula und ihr Vater einander kaum, er ist stämmig und blond, sie schmal und schwarzhaarig, mit Haut wie aus Alabaster, wie Schneewittchen sieht sie aus, das finden alle. Hier im Ort hat das Schneewittchen grüne Augen, grün wie Entengrütze im verschütt gegangenen Teich, grün wie das Wetterleuchten auf einer vergangenen Reise, grün wie ein ungiftiger saurer Apfel aus dem Sechserpack im Lebensmittelladen, in dem sich heute wohl nicht nur Einkäufer versammeln.
»Mich bekommen die hier nicht weg«, sagt Jula.
»Jula«, sagt Jeremias und runzelt die Stirn.
»Was denn!«, sagt Jula mit einem Ton in der Stimme, den Greta ihr
Weitere Kostenlose Bücher