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Bevor Alles Verschwindet

Bevor Alles Verschwindet

Titel: Bevor Alles Verschwindet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Scheffel
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gar nicht zugetraut hätte. Jula dreht ihrem Vater den Rücken zu, widmet sich ganz Greta, verschränkt die Arme, seufzt über Jeremias wie über ein dummes Kind, beugt sich hinunter zu Greta und flüstert, durch die Wolle der Mütze hindurch, in Gretas Ohr hinein: »Uns kriegt hier niemand weg.« Hinter ihnen räuspert sich Jeremias mehrmals, fragt:
    »Wo ist eigentlich dein Bruder?«, dann: »Hast du nichts Besseres zu tun?«
    »Nein.« Sie rücken eine paar Schritte vor, Clara und Robert Schnee verschwinden im Innern des Ladens, Marie wendet sich noch einmal zu Greta, Jula und Jeremias um, als wür
de sie in ein Raumschiff steigen und als käme sie nie wieder zurück. Greta lächelt Marie an, dieses seltsame kleine Mädchen, das aussieht, als wäre es einer der sepiafarbenen Atelieraufnahmen des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts entsprungen, um sich in unserer Zeit umzuschauen, um sich noch ein bisschen wundern zu können. Marie antwortet mit einem Stirnrunzeln, das nett gemeint ist, das weiß Greta.
    »Was ist, Marie?«, fragt Jula.
    »Die Blutung«, sagt Marie und tritt einen Schritt weg von der Tür, durch die eben ihre Eltern verschwunden sind.
    »Flutung, Marie, nicht Blutung«, sagt Greta lächelnd. Marie überlegt, schluckt.
    »Die Flutung ist echt, oder?« Greta und Jula nicken, Jeremias macht zwei Schritte auf Marie zu, bleibt dann aber stehen.
    »Marie, du musst dir keine Sorgen machen. Alles wird gut«, sagt Jeremias ruhig.
    Greta kann sich vorstellen, wie er den Jungen und das Mädchen früher ins Bett gebracht hat, wie er einlullende Lieder gesungen, wie er die Decken sorgfältig über ihnen zurechtgelegt hat, auf Zehenspitzen ist er zur Tür geschlichen, obwohl die Kinder noch gar nicht eingeschlafen sein konnten, so schnell geht das nicht, in der Tür hat er sich noch einmal umgedreht, sie dann leise hinter sich geschlossen, bevor er schließlich müde neben seiner Frau aufs Sofa gesunken ist. Eher zufällig streicht seine Hand an ihrem Rücken entlang, Herr und Frau Salamander, endlich Ruhe, endlich zu zweit, endlich wie früher. Jeremias nimmt Eleni die Fernbedienung aus der Hand und legt sie auf den Tisch. Eleni rutscht ein »Aber ich muss noch« heraus, und Jeremias schüttelt den Kopf, sie lächelt. Und so ging es weiter auf dem Sofa in der Nacht vor ein paar Jahren, und sie haben sich in Sicherheit gewiegt. Greta kann sich das vorstellen, sie stellt sich gern Menschen beim Glücklichsein vor, es ist eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen, sie kommt gleich nach der Grabpflege.
    »Frau Mallnicht«, sagt Marie. Sie steht jetzt direkt vor ihr, und in der Tür taucht Clara wieder auf, sie will wissen, was mit dem Kind ist.
    »Wahrscheinlich kommt die Flutung, ja«, sagt Greta. »Aber vielleicht passiert auch noch etwas, was das Wasser aufhält. Ein Wunder vielleicht.« Marie nickt, die Antwort ist ehrlich, und mehr will sie in diesem Moment nicht. Marie gibt Greta tatsächlich die Hand, sagt »Danke sehr«, und dann löst sie sich nicht in grobkörnige Lichtpunkte auf, sondern dreht sich um und läuft die Rollstuhlrampe hinauf zu ihrer Mutter und verschwindet zusammen mit ihr im Laden, der auch heute kein Raumschiff ist.
    »Wir könnten eigentlich reingehen«, stellt Jeremias fest. Außer ihnen sind alle im Laden, die Tür klappt immer wieder einen Spalt weit auf, wenn jemand von innen gegen sie gedrückt wird. Der Laden ist nicht für Versammlungen gedacht.
    »Das bringt doch eh nichts«, sagt Jula. Jeremias sieht Jula herausfordernd an.
    »Du warst doch die Erste, die rumgetönt hat, wir müssten etwas unternehmen.« Jula grinst.
    »Damit habe ich aber nicht gemeint, dass wir uns alle in den Laden drängen und die Bananenauslage zerquetschen sollen.« Jeremias seufzt genervt.
    »Das reicht jetzt! Kommt ihr nun oder nicht?« Greta lächelt, er bezieht sie mit ein. Als würde sie mit der ebenhölzernen Jula vor der Tür stehen und gegen den Vater rebellieren. Sie geht hinein in den Laden, und auch Jula folgt ihr nach einem präzise gesetzten Zögern und einem Tritt gegen einen unsichtbaren Stein, eine leere Bierdose, die hier niemand auf den Boden werfen würde.
     
    Auch im Tore gibt es eine Versammlung und auch dort gibt es keine Ergebnisse. Wacho sitzt mit den anderen um den
Stammtisch, er isst nichts, er trinkt nur und lässt wie immer anschreiben. Der Wirt fragt nach David, betont, den Jungen wirklich zu mögen, in ihm einen guten Kellner zu haben, obwohl oder gerade weil David kaum

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