Bevor Alles Verschwindet
belassen und das Holz stammt aus der unmittelbaren Umgebung. David ist sich sicher, dass das Haus letzte Nacht und zusammen mit Milo großartiger aussah, jetzt ist es nur noch ein wackliger Schuppen. David steht dicht an der Plane, die vor der Türöffnung hängt, Milo hat ihn bestimmt längst gehört, der Kies, die Äste, all diese Verräter.
»Kann ich reinkommen?«, fragt David, als stünde er mit kakaohaltigen Porzellantassen vor dem Zimmer der letzten wahren Prinzessin. David wartet, lauscht, hört nichts, spürt aber, dass da jemand ist, und höchstwahrscheinlich ist es Milo. Als etwas an seinem Bein entlangstreicht, zuckt David zusammen. Ein blauer Fuchs verschwindet in den Thujen. Aus dem Verschlag dringt immer noch kein Geräusch, keine Einladung zum Eintreten, und David schiebt die Kompostabdeckung zur Seite. Vielleicht hat er sich zu sehr in seine Porzellanphantasien hineingesteigert, vielleicht auch einfach nur etwas zu irrational gehofft. Dieses Häuschen ist jedenfalls kein versteckter Palast, hier gibt es keine Kronleuchter, kein Himmelbett und das Einhorn ist ein gewöhnliches Pferd. In dem Haus,
das eher ein Verschlag ist, befindet sich wahrscheinlich nicht einmal Milo.
In dem größeren Raum im Erdgeschoss gibt es einen Haufen Gartenwerkzeug, in der einen Ecke Schaufeln und Harken und einen rostigen Spiralrasenmäher und in der anderen hat Milo anscheinend sein Lager aufgeschlagen: eine alte Matratze, zwei Decken der längst nicht mehr existenten freiwilligen Feuerwehr, eine löchrige Stehlampe mit immerhin rotem Schirm, rotes Licht für eine Antäuschung von Wärme, ein Stuhl mit dreieinhalb Beinen, eine abgewetzte Arzttasche. David schaltet die Lampe ein, rotweiches Licht sickert durch den Raum. Das alles hat David gestern Nacht nicht beachtet, vielleicht, weil er so sehr bei Milo war, und da ist er ja wieder, da steht neben einem unter Plastikplanen verborgenen Ungetüm Milo in der Ecke.
»Mann«, ruft David. Er ist empört und muss gleichzeitig lachen. »Mann, du hast mich erschreckt.« Milo grinst. »Was ist das?«, fragt David und zeigt auf das Plastikungetüm, aber Milo antwortet nicht. Er setzt sich zu ihm auf die Matratze. »Ich war bei Greta, ich weiß jetzt, was los ist«, sagt David. Und dann sitzen sie still nebeneinander, und so ist es gut, sehr gut sogar.
Noch ist nichts passiert, noch können sie hier sitzen, wo in weniger als einem halben Jahr ein See sein soll. Sie können gewinnen, daran glaubt David fest, und so reißt er sich mit dem Schlag der Turmglocke los aus der Sicherheit.
»Ich muss arbeiten. Aber wir sehen uns«, sagt David. »Wir sehen uns wieder.«
David löscht das Licht, verlässt das winzige Haus, drapiert die Plane wieder sorgfältig vor dem Eingangsloch, damit Milo in Ruhe gelassen wird und er es möglichst warm hat in seiner Bruchbude. David läuft in Richtung des Wirtshauses. Er ist viel zu spät dran, aber was macht das schon, seit kurzem leben sie im Ausnahmezustand. Es muss weitergehen und es wird
weitergehen, natürlich wird es das, ab hier. David gehört zu jenen, die an das Recht auf ein gutes Ende glauben.
»Du bist zu spät«, sagt der Wirt, als David ins Tore stürzt. »Keine Sorge«, sagt David, »jetzt bin ich ja da.«
Dreimal geschlagene Glocke, seit Jahren vollautomatisch, Mond auf, Mond ab und Auftritt: müde Sonne. So vergeht die Nacht, als wenn nichts gewesen wäre, als hätten alle geschlafen, dabei schlief nur die eine Hälfte, die andere traf sich in Gedanken, sprachlos und sinnlos irgendwo auf dem Hauptplatz. Ein ergebnisloses Morgengrauen also, ein Tag ohne Aussicht auf irgendetwas und dann auch noch Nebel und: Sollen sie sich auf den Frühling freuen, sollen sie die Tage zählen, wenn die vor allem zum Untergang führen? Ein Sonntag, der sich wie ein Relikt anfühlt, der ein Danach und Davor ist, wie eine nach dem Aufstehen beginnende langgestreckte blaue Stunde, wie ein stilles Jenseits am Boden eines ganz neuen Meeres, entstanden in viel weniger als einem halben Jahr. Der Ort liegt vor einem Dilemma, träge erhebt er sich in den Kaffeeduft, in ein »Ich geh mal Brötchen holen«, ein »Oder gehst du?«, ein »Ich geh ja schon, immer ich«.
Nur vereinzelt sind Menschen auszumachen. Der erste Sonntag nach der Versammlung ist dumpf und müde, er schleppt sich, und nirgendwo kommt man rein an diesem Wochenendtag, außer in die Bäckerei, aber heute auch da nur bis elf, nur bis zum Ausverkauf, bis zum übrig gebliebenen Korbbrot,
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