Bevor Alles Verschwindet
und David lässt sich auf den Stuhl fallen. Greta holt die Teekanne unter dem Federbett hervor, dort steht sie den ganzen Tag über, weil sich die Wärme beim Zubettgehen nach Leben anfühlt. Als Greta den lauwarmen Tee eingegossen hat und mit David am Tisch sitzt, weiß sie nicht, wie sie die Sache anfangen soll. Wie immer, wenn Greta nicht so recht weiß, spricht sie einfach drauflos:
»Sie werden den Ort versenken.« Das ist direkt und schnörkellos, und David blickt Greta angemessen verständnislos an.
»Wer will was versenken?«, fragt er, er wirkt, als vermutete er einen Angriff der apokalyptischen Reiter. Greta nimmt seine Hand, löst seinen Zeigefinger aus dem weißen Kästchen der karierten Tischdecke, drückt die Hand sekundenkurz. Die Finger werden nicht warm, so schnell geht das nicht, und David zieht die Hand weg, sieht sie entschuldigend an. Greta schaut mit einem Blick zurück, von dem sie hofft, dass er als Altersweisheit durchgeht, und dann spricht sie besonnener, als sie sich fühlt:
»Es wurde beschlossen, dass der Ort verschwinden muss, erinnerst du dich noch an die Tests?« David schüttelt den Kopf und Greta denkt noch einmal nach, ihr wird klar, dass David sich unmöglich erinnern kann, er war noch zu jung. Greta erzählt: »Vor einigen Jahren, ungefähr zwanzig vielleicht oder mehr, haben sie Messungen durchgeführt. Du warst noch klein, als sie damit begonnen haben. Sie haben angefangen und irgendwann wieder aufgehört, und schließlich haben wir uns keine Gedanken mehr gemacht. Aber jetzt wurde aufgrund der Messergebnisse beschlossen, dass der Fluss gestaut wird, weil das besser ist. Wegen der Stromversorgung und der Lage und der Erschließung und so. Wir werden verschwinden, David, mein Lieber –« Greta macht eine Pause, David sagt:
»Scheiße.« Greta bewegt vage den Kopf.
»Ich hoffe nur, ich bin rechtzeitig tot«, sagt sie, darum geht es ihr eigentlich, das ist das ganz banale Problem. »Sie werden den Friedhof versiegeln, vermute ich, und wenn ich nicht rechtzeitig tot bin, dann versiegeln sie Ernst ohne mich, und das geht nicht, das verstehst du doch, oder?«
»Klar«, sagt David und er sagt es so entschlossen, dass Greta weiß, dass er überhaupt nichts versteht. »Wie lange noch?«
»Diese Nacht weniger als ein halbes Jahr«, sagt Greta und: »Dann ist alles weg.«
Selbstverständlich wird sie es hinbekommen, innerhalb dieses Zeitraums zu Ernst zu gelangen, aber wie sie das anstellen soll, das weiß sie noch nicht. »Ich brauche nur ein paar Tage vom Tod bis zur Beerdigung. Es ist ja schon alles vorbereitet. Aber vermutlich beginnt die Versiegelung ein paar Wochen vor der Flutung. Wenn sie den Tag bekanntgeben, will ich bereit sein.«
David ist ganz ruhig, er gießt Greta Tee ein, sie kann die blaugrauen Flecken an seinem Handgelenk nicht übersehen. Sie trinkt einen Schluck Hagebuttentee, sie hat Bilder im Kopf von dem Strauch neben dem Gießkannengestell, neben dem Wasserbecken, den getrockneten Früchten aus dem letzten Herbst, noch immer hängen dort welche, dann fährt sie fort:
»Es ist alles gut.«
Aus Davids Gesicht weicht die Farbe. Dann springt er auf, und im Sprung wirft er seine Tasse um, dann läuft er zur Tür, reißt sie auf und verschwindet in der Dunkelheit.
David erkennt deutlich die Dramatik darin, wie er jetzt quer über den Friedhof läuft, den Weg entlang, über das aufdringlichste Kiesknirschen aller Zeiten, an Kränzen, an den flackernden roten Schatten der Grablichter, an schlafenden Engeln vorbei. David sieht sich von oben, schwebend ist er vorhin diesen Weg entlanggekommen, da ist ihm die Welt
noch sicher erschienen wie nie zuvor, jetzt hängt sie wieder schief in den Angeln. Die Schräglage ist der Normalzustand, nichts, was David ins Rutschen bringen kann, aber nach ein paar Stunden Rundumzufriedenheit gestern Abend fühlt er alles, was falsch ist, stärker als sonst.
David hat noch keinen Weltuntergang erlebt und sein Herz donnert gegen den Brustkorb, im Kopf knallen Gedanken gegeneinander, die nichts miteinander zu schaffen haben, er spürt mit einem Mal eine Angst, ganz diffus, nicht nur im Bauch, nicht nur im Kopf, querfeldein sozusagen. Er sucht Milo dort, wo gestern Nacht alles vollkommen war.
In die zur akkuraten Hecke gestutzten Thujen hinein hat sich das kleine Haus gedrückt. Es wird hinten und an den Seiten von den Ästen geschützt, um die Hausfront wölbt sich der Wald, die stachligen Bretter der Wände sind im Rohzustand
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