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Bevor Alles Verschwindet

Bevor Alles Verschwindet

Titel: Bevor Alles Verschwindet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Scheffel
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seit der Laden an der Ecke geschlossen ist, und Jules bringt sie dann in die Stadt, und von dem Pfandgeld kaufen wir ihr etwas Schönes, Schokolade oder einen Riesenstrauß Blumen, so einen, wie sie dir zum Geburtstag gebracht hat. Erinnerst du dich?« David nickt, natürlich erinnert er sich an die Erzählung vom Blumenstrauß auf der Türschwelle, das war im Januar, jetzt ist März, so schnell vergisst er Wachos Wahnsinnsbilder nicht, er will weinen und schreien und weglaufen. »Ich weiß, das ist alles nicht einfach«, sagt Wacho.
    »Was?«
    »Aber es wird gut«, sagt Wacho und schiebt den Stuhl zurück, er nickt David zu. Der steht auf, geht die Treppe hinauf in sein Zimmer. Wacho macht hinter ihm die Tür zu, er schließt sie nicht ab. Er ist mit den Gedanken woanders, in diesen Augenblicken denkt er nicht daran, David an den Fremden zu verlieren. Wachos Angst vor der Situation drüben bei Mona ist gerade größer, er will, dass David ihm folgt und ihm beisteht, wenn er Mona Gesellschaft leistet, beim Abriss ihres Hauses.
    David sitzt auf seiner Matratze, er hört Mona schreien durch die schiefen Wände hindurch, er ist nicht gut im Weghören, lange nicht so gut wie die anderen hier. Er kann doch nicht einfach hier rumsitzen, er muss nach dem Rechten sehen. David öffnet das Fenster, aus Gewohnheit nimmt er den umständlichen Weg, den er sonst heimlich zu Milo geht.
     
    »Das ist sehr schön geworden«, sagt Robert. Marie nickt, sie weiß, dass ihr Bild gut geworden ist. »Schön« ist das falsche Wort, es ist furchterregend geworden. Der Schädel hat stillgehalten, ausnahmsweise hat er eine Pause gemacht vom Erzählen. Jetzt staunen die Bären, die Puppe, das Piratenschiff, die Besatzung und Maries Papa. Sie hält ihr Werk in die Luft, das muss trocknen, dann wird gehisst und damit ist das Haus geschützt vor Baggern und Wirbelstürmen, vor Erdbeben und feindlichen Übergriffen. Robert streicht Marie gedankenverloren über den Kopf und reicht ihr das Müsli. Wie so oft bekommt er auch heute nicht mit, dass Marie hinter seinem Rücken die Welt rettet.
    »Gehst du heute nicht in die Praxis?« Clara seufzt lange, erst dann antwortet sie:
    »Ich halt's nicht mehr aus. Wenn nur noch einer kommt, der sich von einem Fuchs hat beißen lassen, dann werde ich selbst tollwütig, das schwöre ich dir.«
    »Das ist ein gutes Bild«, sagt Robert. »Wir alle mit Tollwut.«
    »Wenn du meinst«, sagt Clara, »mir reicht es jedenfalls. Sollen die doch in die Stadt fahren, im Krankenhaus sind die ohnehin besser ausgestattet.«
    »Wenn alle Bauarbeiter Tollwut haben«, überlegt Marie laut und mit Müsli im Mund, »dann müssen sie alle ins Krankenhaus, in Karantine.«
    »Quarantäne«, sagt Clara und: »Das kommt von vierzig Tage.«
    »Vierzig Tage«, sagt Marie, »das ist ganz schön lang.«
    »Die bekommen aber nicht alle Tollwut«, sagt Robert, er will Marie beruhigen. »Mama behandelt sie und dann sind sie wieder fit.«
    »Dann kann der Fuchs sich das Beißen ja sparen«, sagt Marie, schiebt die Müslischale weg und geht in ihr Zimmer.
    »Das Kind«, sagt Robert.
    »Dein Kind«, sagt Clara.
     
    Noch nie war David hier drüben, dabei sind sie seit Jahren Nachbarn und er ist der Sohn des Bürgermeisters, er fühlt sich fremd, so dicht vor Monas Haustür. David klingelt, man hört ihn nicht, und die Tür steht ohnehin offen, wahrscheinlich hat sein Vater mit ihm gerechnet, vielleicht hat er Mona zum Schreien gebracht, damit David ihm nachkommt. Vielleicht bringt Wacho David darum manchmal zum Brüllen: Damit Davids Mutter zurückkommt. David kneift sich in den Arm, so etwas darf er nicht denken, so ist sein Vater nicht. Wie er ist, weiß David allerdings auch nicht, und in diesem Moment geht es nicht um ihn, hier geht es um Mona, sagt sich David, vorsichtig schließt er die Tür hinter sich und tritt ein in das fremde Haus.
    Überall ist Licht. Niemals hätte er hier so viel strahlende Helligkeit erwartet, Mona wirkt nicht wie jemand, der so dermaßen beleuchtet wird. David kneift die Augen zusammen, im Wohnzimmer donnert ihm das Sonnenlicht noch bruta
ler ins Hirn als eben im Flur, es ist kalt. Im Gegenlicht sieht David jemanden sitzen, er schirmt die Augen ab, schließt sie, öffnet sie, der Mensch ist weg. David sieht Dinge, die nicht sein können. Jetzt sieht er Mona, sie steht da und beobachtet.
    Mona schaut eine Wand an, die es nicht mehr gibt. Sie trauert um die schummrige Sicherheit ihres Hauses, sie starrt auf die

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