Bevor Alles Verschwindet
Holzstückchen in die Jackentasche. Aus dem Schutt ragen die Reste einer dreistufigen Treppe, die hat vor ein paar Stunden zur Eingangstür geführt. Jula kann sich Mona unter den Trümmern vorstellen und
fühlt sich ihr einen Augenblick lang verbunden. Mona und sie, die beiden Entschlossenen, zwei Frauen, die nie im Leben aufgeben werden, nicht den Ort, nicht ihr Leben. Niemals.
Da drüben stehen schon die Container, die Gelbhelme unterhalten sich leise, auch diese Zerstörer benehmen sich wie auf einem Friedhof. Immerhin. So viel Respekt. Jula findet ein Fotoalbum, eine alte Puppe, sie findet einen halben Laib Korbbrot, den muss Eleni gebacken haben, oder war sie es selbst? Sie nimmt das Brot mit. Man kann es noch toasten.
»Was machst du da«, ruft einer der Kerle beim Container. »Betreten verboten«, ruft er.
»Ich wohne hier«, sagt Jula.
»Jetzt nicht mehr«, sagt der Gelbhelm, »sieh zu, dass du hier verschwindest.« Jula wird schon wieder wütend, sie ist so oft wütend in letzter Zeit, sie bildet sich sogar ein, eine Falte zu haben zwischen den Augenbrauen. Jules behauptet, da wäre nichts, aber der weiß sowieso nichts, der guckt nicht richtig hin, der denkt, er kenne sie auswendig. Dabei ist Jula so wenig die Jula von vor einem Jahr, wie die Traufe noch der Fluss ist, als der sie seit Jahrhunderten Teil des Ortes war. Die Traufe wird zu einer Urgewalt und Jula zur Furie. Sie tritt gegen das Geröll, eine Karaffe zerbricht, warum zerbricht die erst jetzt? Da ist doch ein ganzes Haus draufgestürzt, auf diese dämliche Karaffe. Jetzt schicken die ihr einen Vermittler. Jula grinst zufrieden, die Kerle haben kapiert, dass mit ihr nicht zu spaßen ist, sie lässt sich nicht wegscheuchen wie ein ängstliches Kind.
Der Typ, der auf sie zukommt, ist nicht der Bauleiter, das ist irgendeiner der Statisten, ein Zerstörer unter vielen, der größten Aktivistin schicken die nur irgendwen. Jula lacht dem Kerl ins Gesicht, sie kreischt vor Lachen, mit ihr nimmt es niemand auf, und der Typ nimmt seinen Helm ab, darunter kommt schwarzes Haar zum Vorschein, kohlrabenschwarz wie ihres, wie das von Jules. Jetzt entdeckt sie auch die blass
blauen Vogelfedern auf seinem Arm. Jula kennt ihn, sie ist ihm schon einmal begegnet, neulich, als Jules die Linde erlegt hat.
»Hallo«, sagt der Vogelmann.
»Hi«, sagt Jula.
»Hast du Lust auf ein Bier?«
»Ja«, sagt Jula aus Versehen. Der Lampenschirm, den sie als Strafe für diese Antwort tritt, kann nichts dafür, dass sie so schnell vom rechten Weg abzubringen ist. Sie tritt ihn dennoch in den Staub und dann lässt sie sich von dem beflügelten Zerstörer aus den Trümmern begleiten.
Schon wieder die Nacht, die Nacht kommt David seit einiger Zeit länger vor als früher. Das hat nichts mit der Jahreszeit zu tun, sonst müsste es mehr Sonne geben mittlerweile, sie haben fast Frühling, und trotzdem: immer diese Nacht, schon mitten am Tag. Spätestens um sechs wird David müde, und Milo macht es ihm heute nach, gemeinsam gähnen sie Wacho an und die stumme Mona, die aus ihrem schmalen Stück Brot einen Klumpen geformt hat. Wacho hält fest an der Idee eines gemeinsamen Abendessens, mit Gesprächen, mit allem, was dazugehört. Vielleicht ersetzt Mona ihm heute jemanden, denkt sich David und auch, dass sie das auf keinen Fall schaffen wird. Gegen die sehnsüchtige Erinnerung kommt kein gegenwärtiger Mensch an, da können sich die Augenblicke anstrengen, wie sie wollen.
»Das war ein Tag«, sagt Wacho. »Und das ist erst der Anfang.« Mona nimmt den Klumpen in die Hand und quetscht ihn durch die geballte Faust, David will sein Taschentuch festhalten, aber irgendjemand muss es weggenommen haben, also drückt David Milos Hand unter dem Tisch und Milo drückt zurück, das ist gut.
Wacho schenkt Wein nach bis zum Rand, und aus Davids Glas fließt er auf das weiße Tischtuch, das Wacho zur Feier
des Tages aus einem lange nicht beachteten Schrankfach gezogen hat. Milo starrt auf die rote Lache, die sich ins Gewebe frisst. Milo starrt wie jemand, der bei Wein an Blut denken muss, und das nicht aus religiösen Gründen. Hat Milo eine Geschichte? David weiß es nicht, er weiß eigentlich gar nichts über ihn. Nur das: Milo hat eine tiefe Narbe quer über dem rechten Schulterblatt, blaue Flecken überall, er hat keine Haare auf der Brust und er trinkt zu wenig. Milo mag Holzstaub und Stille und er hat Sommersprossen auf der Nase. David weiß nicht, ob Milo wirklich Milo heißt.
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