Bevor Alles Verschwindet
Piano, auf dem Foto sieht man Mona oder Monas Mutter, vor allem sieht man darauf eine Erinnerung an das so leicht dahergesagte Alles-gut.
Abzüge gibt es nur von den guten Zeiten, denkt David und: Warum hat das Café damals eigentlich zugemacht? Was hat er verpasst, was hat sein Vater nicht wahrhaben wollen, wo sind all die Menschen hin, denen er damals Tee, Kaffee, Eis und Nusskuchen gebracht hat? Was haben die realisiert, was Wacho, David, Mona, Jula und Jules, was Eleni und Jeremias, was Greta, Clara, Robert und auch Marie, was sie alle verpasst haben oder nicht sehen wollten? Warum ist Milo eigentlich erst so spät hier aufgetaucht und wieso hat er ihn gestern nicht fester gehalten? David verschüttet weder den Tee, noch verliert er das Foto, er kommt ein wenig aus dem Gleichgewicht, aber er macht keinen Fehler.
Draußen wartet Wacho bei Mona, weht der Wind über neugewonnene Freiräume, krallen sich die Reste der Linde in den immer noch winterlich grauen Boden, der den strahlend blauen Märzhimmel in Frage stellt. Warum wirkt hier alles auf einmal so alt? Auf dem Platz haben sich ein paar der Übriggebliebenen versammelt, sie glauben nicht daran, dass es wirklich geschehen wird, sie warten darauf, dass eine Stimme sich erhebt aus dem Off, ein Gott, eine Regie, die das ganze Projekt der Flutung als Versehen, als Witz, als Blödsinn deklariert. Aber da kommt niemand, da steckt nur der Gelbhelm den Kopf aus der Tür und fragt:
»Wollen Sie noch irgendetwas rausholen?«
Niemand sagt etwas. Die Menschen stehen und warten schweigend, alle sind jetzt da, alle, die noch da sind. Milo steht bei David, im T-Shirt, mit staubigem Gesicht und nimmt seine Hand. Mona beginnt leise zu weinen und drückt ihre Nase in Wachos blauen Pullover, und Wacho flüstert irgendetwas in ihr stumpfes Haar. Monas Haus, das erste, stürzt in sich zusammen und es gibt nur noch Staub und Trümmer und nichts mehr, was zählt. Jemand macht ein Foto, die Bildunterschrift dieses Mal scheinbar bescheiden, mit einem Hauch von Lakonie: Ohne Worte .
»Du kommst erst mal mit zu uns«, sagt Wacho zu Mona, die würgt und würgt und hört nicht auf, vielleicht steckt ihr der nicht gegessene Kuchen im Hals fest, Mona sieht aus, als bekomme sie keine Luft. Sie lässt sich wegführen, sie murmelt etwas, immer wieder »die Fahrräder, die Fahrräder«, sie murmelt »Wo bleibt er, wo bleibt er nur«, sie sagt leise »Entschuldigung«, und sie lassen Mona vor sich hin flüstern, sie wissen nicht, was sie meint.
»David. Mitkommen«, sagt Wacho, und David presst Milos Hand, beweist sich und ihm, dass er festhalten kann, dass er da ist für Milo, dass der nicht wieder verschwinden muss, in der Tiefe des Brunnens. Sie folgen Wacho ins Haus. Das ist
morgen dran oder übermorgen oder in der Woche danach, jedenfalls wird es ganz gewiss auch bald verschwinden.
Jetzt stehen David und Milo zusammen vor der Tür zu Annas Zimmer.
»Mein Vater hat sie blau gemalt«, sagt David, »einfach so.« Er muss an das Klavier denken, drüben bei Mona, an die blütenweiße Tischdecke, an die nie ausgefallene Teezeit, und er fragt sich, wie das ist mit den Erinnerungen, ob sich bald jeder Schritt, jedes Wort, jeder Tag, jeder Mensch wie eine Erinnerung anfühlen wird. David greift nach Milo, schlingt die Arme um ihn und kümmert sich nicht darum, dass seine Fingerspitzen dabei den eigenen Körper berühren. Milo ist jemand, der sehr dünn ist, so ist das, das macht nichts, und von draußen dringt jetzt Geschrei in den seltenen Frieden. David flüstert Milo ein Lied ins Ohr, eins ohne Melodie und ohne zusammenhängenden Text. Es sind einfach nur Worte, weil Worte beruhigen können und einen ab und zu forttragen aus einer Welt, in der Wände über Teetischen zusammenstürzen und das zweite Gedeck nur ein Alibi ist.
Im letzten Tageslicht rennt Jula über den Platz. Sie verflucht sich selbst, so gut sie kann. Sie hat es verpasst, wahrscheinlich als Einzige. Sie war unten bei der wütenden Traufe, während die Gelbhelme Monas Haus zerstört haben. Da oben hätte Jula ein Zeichen setzen können. Sie hat den Termin vergessen über ihrer Wut. Sie müht sich durchs Geröll, findet einen Zuckerlöffel, ein zerschmettertes Fahrrad mit glänzender Klingel, weiße Plastikteile, Ebenholzstücke, Jula erinnert sich an einen Geburtstag, an ihren Versuch, für irgendwen aus diesem Haus Für Elise zu spielen. Es ist eine schöne Erinnerung und sie steckt sich eines der schwarzen
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