Bevor Alles Verschwindet
sich nicht, er ist so müde. Der Letzte macht das Licht aus, und David löscht den Mond und die Sterne und diesen Tag. Heute Nacht schläft er traumlos.
Vom Fenster aus hat sie alles beobachtet. »Oje«, sagt Marie zu dem Schädel, »die drehen durch.« Der Schädel nickt in Maries Händen. Er ist müde, genau wie sie. »Ich werde dich malen«, sagt Marie. »Du kannst so ein Protest-Ding sein, so wie Papa, aber ohne Theater.« Der Schädel hat nichts dagegen, er findet jeden einzelnen von Maries Vorschlägen gut, der Schädel ist Maries größter Bewunderer.
Jula hat den Plan kopiert, heimlich, in Jeremias' Arbeitszimmer. Jules wirkt verängstigt, als sie ihm die Kopie auf die Bettdecke legt.
»Steck das gut weg«, sagt Jula und Jules nickt, wenig entschlossen. »Du musst echt mitmachen«, sagt Jula. »Sonst will ich nie wieder etwas mit dir zu tun haben. Reden kann nämlich jeder.«
»Klar«, beeilt er sich zu sagen und: »Auf jeden Fall mache ich mit. Was war das eigentlich mit David vorhin?« Er lenkt ab, darauf lässt sie sich nicht ein, sie kennt das schon, wie er das macht, ziemlich ungeschickt. Sie kann nicht akzeptieren, was Jules da versucht, er ist ihr Spiegelbild, er muss sich anpassen.
»Hättest halt rauskommen sollen«, sagt sie knapp und geht.
Jula wird ihnen die Welt um die Ohren hauen. Die Welt, so, wie sie sie haben will, die verschiebt sie nicht mehr auf morgen oder den Tag danach. Ein Perfekt und ein Richtig und ein Überall, eine Gerechtigkeit, die erst noch verteilt werden muss, das alles fällt einem immer erst ein, wenn man schon im Schlafanzug ist, im löchrigen T-Shirt, im zu langen
Hemd. Erst wenn sie sich zur Ruhe legt, wird sie unruhig, und das ist der Trick. Das ist der Trick dieser Wut: Die Wut wartet mit dem Auftauchen, bis Jula erschöpft ist oder zu faul oder beides. Jula sammelt Ideen: Alle Haare könnte sie sich ausreißen, den Kopf hinhalten, auf unbeteiligte Wände einschlagen, in den Hungerstreik treten. »Gute Nacht!«, brüllt Jula der Nacht und Jules entgegen, und so endet alles mit dem großen Schlaf, mit dem Ausschalten der Scheinwerfer, so klingt jeglicher Protest aus in der Unsichtbarkeit der Dinge, im diffusen Schein der Verantwortlichkeit. In ein paar Monaten, denkt Jula beim Einschlafen, da machen wir ernst, versprochen.
Der nächste Tag beginnt sonnig, aber nebenan donnert es, und Wacho tut so, als würde er das nicht hören.
»Du kannst mit mir reden, wenn irgendetwas ist«, sagt Wacho. Beim Sprechen kaut er sein Brötchen zu Brei. David sieht die Tüte mit den leeren Flaschen an der Türklinke, er weiß, dass sein Vater sich wirklich sorgt. David nimmt sich ein Brötchen, aus Mitleid mit seinem Vater beschließt er zu essen. Aber wie soll er das anstellen, er kann sich nicht vorstellen zu kauen, zu schlucken. Nie im Leben bekommt er irgendetwas herunter.
»Ich bin auch nicht hungrig«, sagt Wacho. David beißt in das Brötchen, es ist viel zu weich und schmeckt trotzdem, als ob es schon drei Wochen alt wäre, und wahrscheinlich ist es das, sein Vater war wohl kaum einkaufen in der letzten Zeit. »Nun komm schon«, sagt Wacho, »was ist los?« David schluckt, ohne zu kauen, das war es mit dem Essen für die nächste Zeit, wenn er ihn nicht zurückholen kann, war's das für immer.
»Was soll los sein?«
»Du wechselst so schnell.«
»Was wechsle ich?« David beobachtet, wie sein Vater überlegt, er tut sich schwer mit klaren Aussagen.
»Du siehst glücklich aus und traurig. Wie geht das?«
»Ich weiß nicht«, sagt David und wundert sich über dieses Gespräch. Wacho nickt, nimmt David dessen Brötchen aus der Hand und isst es auf.
»So, das hätten wir«, sagt er und schluckt zu viel auf einmal hinunter, das muss doch wehtun im Hals.
Nebenan kracht es, als würde jemand die Wände einreißen. Nebenan kracht es, weil sie die Wände einreißen.
»Mona ist als Erste dran mit ihrem Haus«, brüllt Wacho durch den Lärm. »Nach dem Frühstück gehe ich zu ihr, irgendjemand muss sich kümmern.«
»Ja«, sagt David.
»Kommst du mit?« David schüttelt den Kopf:
»Tut mir leid.«
»Noch Kaffee?«, fragt Wacho.
»Ja, gern«, sagt David und lächelt zurück. Ab und zu ein Lächeln, das sollte er ihm gönnen.
»David?«
»Ja.«
»Deine Mutter wird in den nächsten Tagen hier auftauchen, das weißt du, nicht wahr?«
»Mhm«, sagt David.
»Dein Zimmer sollte aufgeräumt sein, die Küche, ich werde nachher die Flaschen wegbringen, Eleni nimmt sie an,
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