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Bevor Alles Verschwindet

Bevor Alles Verschwindet

Titel: Bevor Alles Verschwindet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Scheffel
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drückt ihm den Baseballschläger in die Hand, dabei sagt sie: »Ich dachte, du wärst verliebt.« David läuft mit voller Wucht gegen das Modell und bleibt mit dem Gesicht auf der Scheibe liegen. Für die Menschen da unten müssen Davids plattgedrückte Nase, seine blutleer weiße Wange, das zyklopische Auge unheimliche Weltwunder sein. David versucht,
seine Mutter zu beeindrucken, aber keine der kleinen Figuren bewegt sich, niemand gibt sich zu erkennen, niemand klopft von innen an die Scheibe, da ruft keiner, »Lasst mich hier raus, ich gehöre in eine andere Welt, ich gehöre zu euch«. Mit beiden Händen fasst David den Schläger, er donnert ihn auf die Welt im Schaukasten, er drängt den viel zu winzigen Menschen, dieser kleingeistigen Idee ein Erdbeben auf.
    »Gut«, sagt Jula. »Gut«, sie habe auch eine Spitzhacke. Wofür besitzt ein Mensch wie sie einen Baseballschläger oder eine Spitzhacke, und was weiß David eigentlich überhaupt noch über Jula? Abwechselnd prügeln sie auf das Modell ein, jederzeit könnte ein Unfall passieren. Gut dass Milo nicht da ist, denkt David. Ihm würde etwas geschehen. Aber da steht Milo, am Brunnen vor dem Tore steht er und sieht ihnen zu. Ganz ruhig streichelt er ein Tier auf seinem Arm. Es könnte eine Katze sein, ein Kaninchen oder der blaue Fuchs, von dem Marie ständig spricht. »Weiter«, ruft Jula, und David ist wieder dran mit Schlagen. Weiter, weiter, weiter.
    Jemand macht ein Foto für irgendeine Zeitung von außerhalb. Sie fotografieren jetzt häufig, sie zeigen der Welt: Verzweifelte Bewohner kurz vor der Devastierung . Sie liefern an fremde Frühstückstische die Nachricht von stummen Protesten und Titelzeilen wie Zwischen Umzugskartons und Bulldozer – der Rest ist Schweigen , und sie wundern sich nicht groß darüber, dass auf diese Bilder und Zeilen nur wenige Leserbriefe folgen. Es geht weiter und es hört auf und man lebt, liebt, leidet, das gehört alles dazu, was soll man machen, man steckt ja nicht drin, man kann nur stumm nicken und sagen, »Ach, das tut mir leid«.
    Davids verheult verschmierter Ausbruch wird morgen mit der Bildunterschrift Jugend ohne Zukunft, Protest ohne Plan erscheinen, und zwar in einem der differenzierteren Blätter.
    Davids Hände brennen wie seine Kehle, und im Kopf dreht sich alles. Er schlägt auf das Modell ein und sieht aus dem
Augenwinkel, wie das Tier aus Milos Armen in den Brunnen springt. Milo beugt sich über die hungrige Tiefe, er setzt sich auf den Brunnenrand, hebt ein Bein über die steinerne Mauer, das andere folgt; stumm blickt Milo hinab.
    David hört einen Stein fallen, unten verschluckt ihn das schwarze Wasser, sogar die leichten Wellen hört David, er sieht das Nichts plötzlich, und dann schleudert er den Baseballschläger fort und sich selbst in Richtung Brunnen. David will Milo ins Leben zurückziehen, aber er bekommt ihn nicht mehr zu fassen. Milo stürzt und David schreit, und hinter ihm fragt Jula, während sie weiter auf das Modell einschlägt: »Was machst du denn?« Sie ruft: »Das verdammte Ding ist unzerstörbar«, und dann eilt sie zu ihm und nimmt David in den Arm. Sie riecht gut, nach früher und nach Vanille, irgendwie synthetisch. David erinnert sich an die Abende, als er auf die Zwillinge aufgepasst hat. An Jeremias und Eleni beim Jackenanziehen im Flur, Jula und Jules unterm Tisch, Finger vor dem Mund: »Verrat uns nicht!«
    Wenn Eleni und Jeremias zum Doppelkopf im Tore waren, setzte David sich zu den Zwillingen unter den Tisch. Nie wollten sie fernsehen, immer nur Rakete spielen, Planwagenfahren, Kreuzfahrtschiff an Eisberg und U-Boot auf Entdeckungsfahrt.
    »Schlaf gut«, sagt David.
    »Du auch«, antwortet Jula. Und dann sagt sie: »Du musst dich mal wieder rasieren.« Und David nickt und Jula küsst ihn, aber nur auf die Wange, und dann geht sie nach Hause, sie muss noch einmal mit Jules sprechen.
    David legt den Kopf zurück auf die Scheibe, einen Kratzer hat ihre Aktion hinterlassen, wütendes Schlagen mit Hacke und Schläger und dem Glas bleibt nur eine Narbe. Mit einem Auge sieht David, dass da doch mehr passiert ist, als er dachte. Da ist eine Figur umgefallen, da liegt eine Frau mit Kinderwagen, er hat es tatsächlich geschafft, eine Mutter umzustoßen.
    David streicht über ihren Himmel, er flüstert eine Entschuldigung, und dann wird er am Kragen gepackt und in Richtung der weißen Treppe gezogen. Wachos Atem ist scharf, seine Schritte sind schleppend. Trotzdem wehrt David

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