Bevor Alles Verschwindet
Frau, und dabei sieht sie nicht Milo, sondern nur David an: »Aber wir können da nichts machen. Wir haben unsere Anweisungen. Ich weiß, das klingt hart für Sie, aber was getan werden muss, muss getan werden, und zwar jetzt. Und Sie haben ja Glück. Ihr Haus wird nicht zerstört, Ihr Haus nehmen wir doch mit in den neuen Ort, da kommt es ganz anders zur Geltung als in diesem Versteck.« Die Frau verdeutlicht das Gesagte mit einer Geste, die all die gefällten Bäume gähnend wieder auferstehen lässt. Milo hört ihr zu, nickt aber nicht, er wird das nicht einsehen, weiß David, niemals wird er das.
»Nein«, sagt Milo, er sagt es zu David.
»Das geht nicht«, sagt David.
»Doch«, sagt die Frau. Streng sieht sie David an. »Und wie das geht. Und im Übrigen, lassen Sie sich das von mir sagen, gehört Ihnen das Haus ja nicht einmal, Sie können hier leider gar nichts bestimmen.«
»Wem gehört das Haus?«, fragt David mit einer vagen
Hoffnung im Kopf, mit den Gedanken an das Notfallgeld auf seinem Konto. Die Frau wühlt in ihren Unterlagen, zieht dann ein Dokument hervor und sagt:
»Es gehört einem Verstorbenen, der hat es dem Land vermacht, und das Land sagt, das Haus wird ein Museum oben am Hang.«
»Nein«, sagt Milo.
»Muss das sein?«, fragt David.
»Das reicht jetzt«, sagt die Frau. »Wir sind doch alle erwachsen und vernünftig.«
»Na ja«, sagt David und: »Aber man könnte ja trotzdem noch einmal darüber reden.« Die Frau schüttelt den Kopf, winkt zwei Männer heran, die sich bisher im Hintergrund gehalten haben. Die beiden sind für die Sicherheit zuständig, das sieht man sofort. David würde sie fertigmachen, er kann das, noch hat er Kraft. Aber Milo ist niemand, der sich mit Ordnungsinstanzen anlegen sollte. Milo ist jemand, bei dem in solch einem Fall festgestellt würde, dass ihm etwas Wesentliches fehlt, ein Ausweis, Vernunft oder einfach jeglicher Nachweis seiner Existenz. Milo ist jemand, fürchtet David, der sich im Falle einer Verhaftung in Luft auflösen könnte. Deswegen zieht David ihn jetzt zu sich, spricht beschwichtigend mehr auf die beiden Sicherheitskerle als auf Milo ein. Die Typen wirken ganz ruhig, das hier scheint ein Normalfall zu sein, das kennen sie schon, und David fragt sich, woher.
»Nein!«, brüllt Milo.
»Ganz ruhig«, flüstert David, »das wird schon.«
»Nein!«, ruft Milo, seine Stimme ist schon jetzt, nach zwei Ausrufen des Protests, ganz rau und heiser, und David bekommt es mit der Angst zu tun, weil Milo aussieht, als würde er gleich zusammenbrechen, und zwar schluchzend, und wenn das passiert, dann holen die Verantwortlichen den Notarzt, weil Clara nicht mehr kommt, wenn man sie ruft, und dann landet Milo im Krankenhaus und später vielleicht in der
Psychiatrie und David wäre wieder allein, und zwar mehr denn je.
»Es geht schon«, sagt David zu der Frau, die bereits ihr Telefon gezückt hat. »Wir kommen klar.«
»Es hat Ihnen nie gehört«, sagt die Frau sachlich. »Gehen Sie«, sagt sie. »Wir müssen anfangen.«
Bevor sie ihm die Hand reichen kann und er vollends verloren ist, schnappt David sich Milo, zieht ihn mit und wundert sich darüber, was Milo für eine Kraft entwickeln kann.
»Komm, lass uns gehen.« Milo schüttelt den Kopf, die Sicherheitsleute treten einen Schritt näher. David brüllt sie an, sie sollen bleiben, wo sie sind, sie machen nichts besser. Die Männer kümmern sich nicht um das, was er sagt, sie kommen auf David zu, auf Milo, und David spürt, wie ihm ganz kalt wird vor Wut und vor Angst.
»Noch einen Schritt näher«, brüllt David, »dann schlag' ich zu!« Sie nehmen ihn nicht ernst, sie gehen weiter.
»Halt!«, schreit David. »Halt!«
Wacho kommt gelaufen, bleibt ein paar Schritte hinter David stehen.
»David, David«, sagt Wacho, er klingt wie ein Schlangenbeschwörer. »Komm mal her.« Wacho greift David mit beiden Armen, und David sieht Milo nicht mehr, er sieht nur, wie die Sicherheitsleute Wacho helfen wollen, jemand hält eine Spritze in der Hand, ein Arzt, aber das kann auch eine Tarnung sein. David hört, wie Wacho brüllt: »Ich schaffe das schon!«
Wacho schleift David durch das verschwundene Tor, quer durch den unsichtbar gewordenen Wald, bis zum Hauptplatz zieht er ihn, vorbei an einem neuen Berg Bauschutt. Sie begegnen Greta, die schiebt das Motorrad, die legt David die Hand auf den Arm, flüstert etwas, vielleicht »Es geht weiter«, vielleicht sagt sie »Träum weiter«, vielleicht sagt sie
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