Bevor Alles Verschwindet
sich?«, fragt Greta und zeigt auf den Schädel in Maries Armen.
»Er schläft noch«, sagt Marie. »Gestern hat er sich sehr geärgert und deswegen ist er heute müde.«
»Marie«, sagt Clara und dann: »Lass.« Marie streicht über den Totenkopf, stellt ihn auf der Schwelle vor dem Haus
der Salamanders ab. »Da kommt doch gleich jemand raus und dann geht er kaputt«, sagt Clara.
»Nein«, sagt Marie.
»Wie du meinst.« Clara wendet sich der Fotografin zu.
»Clara Schnee, ich bin hier die Ärztin. Wofür das gut sein soll, diese Aktion mit den Fotos, ist mir nicht ganz klar, aber wenn es nun schon mal stattfindet, sind wir natürlich dabei. Robert, mein Mann, und das ist Marie, unsere Tochter.« Robert schüttelt der Fotografin die Hand, neben Maries Auftritt mit Schädel wirkt er selbst fast zurückhaltend. Robert trägt wieder das Kostüm des römischen Imperators, dafür ist er mittlerweile sogar berühmt, es stand in der Kreiszeitung: Ein Mann, ein Symbol .
»Ach, Sie sind das«, sagt die Fotografin und mustert Robert genau. »Von Ihnen habe ich gehört.«
»Ja«, stöhnt Clara, aber die Fotografin geht nicht darauf ein.
»Sie und Ihre Familie geben ein wunderbares Bild ab. Ich freue mich, hier zu sein.«
»Es geht um die Macht«, sagt Robert leise. »Darum, wer das Sagen hat und warum.«
»Robert«, zischt Clara, »das interessiert hier doch niemanden.«
»Lasst uns das Foto machen«, sagt Jeremias und geht klingeln, vielleicht kommen die anderen dann auch noch raus.
»Da sitzt er immer noch«, sagt Marie und deutet hinüber zur Rathaustreppe. Die Fotografin versteht nicht.
»Wer?«
»Niemand«, sagt Robert.
»Milo«, sagt Marie. »Er heißt Milo und er ist ein Geheimnis, und wenn ich groß bin, werde ich Ärztin, aber in der Stadt!«
»Schön«, sagt die Fotografin, »wie sieht er denn aus?« Marie überlegt, pult in der Nase, und Clara nimmt ihre Hand.
Marie pult mit der anderen weiter, Clara lässt es geschehen, und dann beschreibt Marie, was die Fotografin doch sehen muss, mittlerweile sehen sie ihn alle.
»Milo ist nicht groß und nicht klein, er ist so mittel, aber größer als ich. Seine Haut ist ganz hell, und wenn die Sonne scheint, dann ist er kaum zu erkennen. Heute sieht man ihn gut, weil es regnet. Er spricht nicht, glaube ich, oder vielleicht doch, aber dann nur mit David und jetzt auch nicht mehr, weil David nämlich, David ist –« Clara nimmt nun auch Maries andere Hand in die ihre, streng sieht sie ihre Tochter an.
»Was habe ich dir gesagt?« Marie grinst.
»Nicht über den Fuchs sprechen und nicht über Milo und nicht Totenkopf sagen.« Die Fotografin schaut Clara an, sie runzelt die Stirn, dreht sich zur Treppe, bückt sich hinunter zu Marie, flüstert verschwörerisch:
»Jetzt sehe ich ihn auch. Wollen wir Milo zum Foto bitten?«
»Nein«, sagen alle. »Lieber nicht.«
»Er sitzt da nur«, sagt Marie. »Seit sie das kleine Haus verpacken und seit David wieder im Rathaus verschwunden ist.«
»Ich hole David und Martin«, sagt Greta und steuert auf das Rathaus zu. Sie streicht über Milos Kopf. »Ich weiß schon«, sagt Greta. »Ich weiß schon.«
Eine halbe Stunde später stehen alle auf dem Platz, sogar Jules, sogar David. Die Fotografin baut sich ihr Bild. Die Gruppe soll sich zunächst vor den Wurzeln der alten Linde aufstellen, vor den Resten des Stamms, danach wird sie jede Familie vor ihrem Haus fotografieren. Sie stellt Wacho neben Jeremias und Robert, davor stellt sie Clara, Eleni und Greta, die Kinder sollen sich auf den Boden setzen, auf die Wurzeln.
»Das passt doch!«, ruft die Fotografin. Sie setzt Marie vor Jula und Jules und dann weiß sie nicht, wo sie mit David hinsoll, der stört die Symmetrie.
»Ich muss nicht mit drauf«, sagt David.
»Unsinn«, ruft Wacho. »Komm zu uns.«
»Wenn David hinten stehen darf, dann will ich da auch hin«, sagt Jules.
»Ich auch«, sagt Jula. »Wir sind übrigens auch nicht mehr im neunzehnten Jahrhundert. Was soll das eigentlich mit dieser Ordnung?« Jula stemmt die Hände in die Hüften, die Fotografin gebietet Einhalt.
»Jeder bleibt, wo er ist. Das hat etwas mit Größenverhältnissen zu tun, und die sind nicht so schnell überholt wie Gesellschaftsordnungen.« Und so wird David schräg neben seinem Vater positioniert, alles wird etwas in die Mitte verschoben und dann kann die Fotografin endlich beginnen. Nur der Totenschädel, den Marie nicht aus dem Arm geben will, versucht so etwas wie ein Grinsen.
Die
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