Bevor der Abend kommt
gehen wir nicht irgendwo frühstücken?«
»Ich hab keinen Hunger.«
»Dann vielleicht eine Tasse Kaffee. Es gibt eine Million Läden, wo wir hingehen könnten.«
»Ich will keinen Kaffee.«
»Faith, Sie haben doch nicht vor, eine Dummheit zu begehen, oder?«
»Eine Dummheit?«
»Sie wissen, was ich meine.« Cindy spürte den Luftzug, als der Zug aus der Gegenrichtung in den Bahnhof einfuhr und am gegenüberliegenden Gleis hielt. Sie wusste, dass sie nicht mehr viel Zeit hatte, bis der Zug nach Norden kommen würde.
»Ich glaube, Sie gehen jetzt besser«, sagte Faith.
»Ich gehe hier nicht ohne Sie weg.«
Faith wirkte verwirrt. »Warum tun Sie das?«
»Weil Sie meine Freundin sind. Weil ich mir Sorgen um Sie mache.«
»Es gibt keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Jetzt wird alles gut.«
»Wirklich?«
»Ja. Ich habe die Lösung gefunden.«
»Die Lösung wofür?«
»Ich weiß jetzt, was ich machen muss.«
»Als Erstes müssen Sie von der Bahnsteigkante wegtreten«, erklärte Cindy ihr ruhig. »Bitte, Faith. Ich weiß, dass Sie, was immer Sie glauben, tun zu müssen, nicht wollen, dass Kyle etwas zustößt.«
»Ich würde nie etwas tun, was Kyle schaden könnte.«
»Dann gehen Sie von der Bahnsteigkante weg.«
»Nicht ich tue ihm etwas«, sagte Faith. »Sondern Sie.«
»Ich?«
Faith blickte an Cindy vorbei zu den anderen wartenden Fahrgästen. »Sie alle.«
Auch Cindy ließ ihren Blick über die Wartenden schweifen, wobei sie versuchte, ihre Besorgnis zu übermitteln. Aber keiner beachtete sie. »Niemand hier würde Kyle irgendetwas tun«, sagte sie laut in dem Bemühen, Aufmerksamkeit zu erregen.
»Die Welt ist kein besonders netter Ort, Cindy. Das wissen Sie besser als irgendjemand sonst.«
»Ja, das stimmt«, sagte Cindy und fragte sich, ob sie um Hilfe rufen sollte, während sie gleichzeitig Angst hatte, damit alles noch schlimmer zu machen. »Das weiß ich. Aber ich weiß auch, dass es, egal wie trostlos einem alles erscheinen mag, immer besser wird.«
»Glauben Sie das wirklich?«
»Ich muss es glauben.«
»Und wenn es nicht besser wird? Was dann?«
Tränen schossen in Cindys Augen. »Dann müssen wir trotzdem weitermachen.«
»Wirklich? Warum?«
Cindy stellte sich die in ihrem Bett schlafende Heather vor. »Weil es andere Menschen gibt, die uns brauchen, die völlig verzweifelt wären, wenn wir etwas so Endgültiges und Unumkehrbares tun würden.« Sie hörte ein leises Grollen und erkannte voller Entsetzen, dass es der nahende Zug war. »Bitte, Faith. Hören Sie mir zu. Es wird besser. Ganz ehrlich.«
»Versprechen Sie mir das?«, flüsterte Faith, während ihre Augen Cindy flehentlich glauben wollten.
»Ja, das verspreche ich Ihnen«, wiederholte Cindy, drückte ihnen beiden die Daumen und wippte auf den Fußballen, bereit, sich auf die Frau zu stürzen und sie zu Boden zu reißen, wenn es sein musste.
Faith atmete tief ein und lächelte, während sich ihre Schultern entspannten. »Okay«, sagte sie schlicht und ließ sich von Cindy in die Arme nehmen.
Gott sei Dank, sagte Cindy stumm, hielt Faith fest umklammert und führte sie von der Bahnsteigkante zur Treppe.
»Oh«, sagte Faith und blieb plötzlich stehen.
»Was denn?«
»Könnten Sie Kyle für einen Moment halten?« Ehe Cindy begriff, was geschah, drückte Faith ihr den schreienden Säugling in die Arme, entwand sich ihrem Griff, rannte zum Ende des Bahnsteigs und warf sich vor den einfahrenden Zug.
32
(Wiederholung: Cindy hört ein Geräusch wie fernes Donnergrollen und begreift, dass es der nahende Zug ist. Sie fleht ihre Nachbarin an. »Bitte, Faith. Machen Sie keine Dummheit. Es wird besser. Ganz ehrlich.«
»Versprechen Sie mir das?«, fragt Faith flehend.
»Das verspreche ich Ihnen.«
Faith atmet tief ein und lächelt, während sich ihre Schultern entspannen. »Okay«, sagt sie und sinkt in Cindys Arme.
»Gott sei Dank.« Cindy hält Faith fest umklammert und führt sie durch die Menge der Wartenden zum Ausgang. Sie haben die Treppe beinahe erreicht.
»Oh«, sagt Faith und bleibt plötzlich stehen.
»Was denn?«
»Könnten Sie Kyle für einen Moment halten?«)
Cindy saß auf ihrem Wohnzimmersofa und starrte an die gegenüberliegende Wand, ängstlich darauf bedacht, den Blick nicht zum Fenster schweifen zu lassen, damit sich in der dunklen Scheibe nicht die schrecklichen Ereignisse des Vormittags spiegelten. Doch der mitternächtliche Mond musste nur kurz zwischen den Wolken aufleuchten, und
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