Bevor der Abend kommt
Rücksitz warf und in den Wagen ihres Vaters stieg.
(Rückblende: Julia trägt ihre neuen Louis-Vuitton-Koffer zu Toms wartendem BMW, und er verstaut ihr Gepäck im Kofferraum, während sie auf dem Beifahrersitz Platz nimmt.)
Cindy musste hilflos mit ansehen, wie Toms Wagen startete und die Straße hinunterfuhr.
Sie stand immer noch vor der Haustür und starrte auf die leere
Straße, als um Punkt neun Uhr Elizabeth Kapiza mit einem Kassettenrecorder in der Hand und einem Fotografen im Schlepptau aufkreuzte.
THE NATIONAL POST Donnerstag, 5. September 2002
Die Leiden einer Mutter
Von ELIZABETH KAPIZA
Toronto, 5. September. Sie sitzt im Wohnzimmer ihres geräumigen, geschmackvoll mit Kunstverstand eingerichteten Hauses am Rande der Innenstadt von Toronto, eine Frau, deren Gesicht von Ungewissheit und Angst gezeichnet ist. Immer wieder schießen Tränen in ihre ausdrucksstarken blauen Augen und tropfen auf ihre elegante pinkfarbene Seidenbluse. »Verzeihung«, entschuldigt sie sich mehrmals und zwirbelt ein ohnehin schon zerfetztes Taschentuch in ihrer Hand weiter auf. Sie bietet mir Kaffee und Bagels an, erkundigt sich nach meinem Wohlbefinden, fragt, ob ich es bequem habe, und ich ertappe mich bei dem Gedanken: eine typische Mutter. Doch leider ist Cindy Carver alles andere als typisch.
Denn Cindy Carver ist die Mutter von Julia Carver, einer bezaubernden jungen Schauspielerin, die seit einer Woche vermisst wird. Ihr Vater ist der bekannte Show-Business-Anwalt Tom Carver, von dem Cindy seit sieben Jahren geschieden ist. Bei der Erwähnung ihres Ex-Mannes lächelt Cindy, und es ist offensichtlich, dass das Verschwinden ihrer Tochter sie ungeachtet möglicher vergangener Meinungsverschiedenheiten wieder näher zusammengebracht hat.
Ebenso offensichtlich ist die Tatsache, dass Schönheit in der Familie liegt, denn trotz ihrer quälenden Lage
ist Cindy Carver mit 42 immer noch eine sehr schöne Frau. Wie sie so auf dem Rand eines von zwei stilvollen Ledersofas hockt, ist die Ähnlichkeit mit Julia unverkennbar, die Art, wie sie den Kopf zur Seite legt, die vollen Lippen, der entschlossene Blick. »Meine Tochter wird nach Hause kommen«, erklärt sie, und ich würde ihr schmerzlich gern glauben.
Die Chancen stehen natürlich nicht gut. Junge Frauen, die vermisst werden, kommen nur selten wieder nach Hause. Einmal verloren, werden sie nur sehr selten wieder gefunden. Und wenn dem nach Wochen, Monaten oder sogar Jahren seelenzermürbender Suche doch so ist, dann häufig in einem flachen Grab. Man muss nur an die grausigen Entdeckungen auf jener berüchtigten Schweinezucht in British Columbia oder die jüngste Entführungsserie in den USA denken. Man braucht lediglich die Namen Amber und Chandra zu erwähnen. Man muss beten, dass der Name Julia nicht der nächste auf dieser Liste ist.
»Was ist Ihrer Ansicht nach mit Ihrer Tochter geschehen?«, frage ich sanft und muss kurz an meine eigene, fünfjährige Tochter denken, die zu Hause in Sicherheit ist.
Cindy schüttelt den Kopf, frische Tränen tropfen auf den Boden, während sie vergeblich um eine Antwort ringt, weil sie nicht laut aussprechen kann, was ihr garantiert durch den Kopf geht. Nämlich dass ihre erstgeborene Tochter das Opfer sinnloser Gewalt geworden ist, die scheinbar untrennbar zu einem Leben in der Stadt gehört, dass ihr süßes Lächeln von einem von Drogen und Alkohol enthemmten Verstand missverstanden worden ist, dass ihre natürliche Spontaneität gewirkt hatte wie ein rotes Tuch, das vor dem Antlitz des Wahnsinns geschwenkt wird.
»Julia ist so voller Leben«, sagt ihre Mutter liebevoll. »Sie ist voller Energie und hat einen unglaublichen Willen. Man muss Julia nur ansehen, um zu wissen, dass sie Erfolg haben wird, egal für welche Karriere sie sich entscheidet.«
Die Karriere, für die sie sich entschieden hat, ist die Schauspielerei. Laut der Frau, die ihr größter Fan ist, ist Julia eine enorm begabte Schauspielerin, deren Talent und Schönheit nur noch von ihrer Entschlossenheit übertroffen wird. Und auch Hollywood-Regisseur Michael Kinsolving, der sich mit schönen, talentierten Frauen wahrlich auskennt und der Julia bei einem Casting am Morgen vor ihrem Verschwinden vielleicht als Letzter gesehen hat, bestätigt, dass Julia absolute Starqualitäten hat. »Ein außergewöhnliches Talent«, gesteht er bei einem Cocktail. »Natürlich, absolut hinreißend. Aber es ist mehr als das. Sie hat das gewisse Etwas, das einen
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