Bevor der Abend kommt
Sternen. Doch wenn welche da waren, versteckten sie sich, dachte sie und ließ ihren Blick zum Nachbarhaus schweifen.
Am Schlafzimmerfenster im ersten Stock stand Faith und starrte zu ihr hinunter. Es war zu dunkel, um ihren Gesichtsausdruck zu erkennen.
19
Am nächsten Morgen um sieben Uhr klingelte das Telefon und riss Cindy abrupt aus einem Boxring, wo sie einen Kampf mit einem unsichtbaren Gegner ausfocht. Blut sickerte von ihren verbundenen Händen, als sie sie nach dem Hörer ausstreckte. Als sie die Augen aufschlug, verblassten die Traumbilder und verschwanden beim Klang ihrer eigenen Stimme endgültig. »Hallo«, sagte sie und bemühte sich zu klingen, als wäre sie schon seit Stunden wach und nicht gerade erst eingeschlafen.
»Cindy Carver?«
Cindy richtete sich auf, und Elvis veränderte seine Lage zu ihren Füßen. »Wer spricht da?«
»Hier ist Elizabeth Kapiza von der National Post . Lassen Sie mich zunächst sagen, wie Leid mir das mit Ihrer Tochter tut.«
»Was ist passiert?« Cindy griff nach der Fernbedienung, schaltete den Fernseher ein und zappte mit jagendem Herzen hektisch von einem Sender zum nächsten, als wollte sie der drohenden Schreckensnachricht so entkommen.
»Nichts«, versicherte Elizabeth. »Es gibt nichts Neues.«
Cindy ließ sich wieder in die Kissen sinken und unterdrückte einen Brechreiz. Ihre Stirn war feucht, ihr Körper schweißgebadet.
»Ich weiß nicht, ob Sie meine Arbeit kennen«, sagte Elizabeth Kapiza.
Cindy sah die 35-jährige Frau mit der modischen Kurzhaarfrisur und den großen, goldenen Ohrringen, die ihr Erkennungszeichen waren, vor sich, die einem vom Rand jedes Zeitungskastens in der Stadt anlächelte. »Ich weiß, wer sie sind.«
Jeder kannte Elizabeth Kapiza, dachte Cindy, selbst wenn er ihre Kolumne nicht las. Ihr steigender Bekanntheitsgrad war das Ergebnis einer unheimlichen Mischung aus Talent und Eigen-PR, die sie vor allem dadurch betrieb, dass sie sorgfältig darauf achtete, zur handelnden Person jeder Tragödie zu werden, über die sie schrieb, sei es ein Fall von Kindesmissbrauch in der Stadt oder die Tat internationaler Terroristen. Theoretisch schrieb sie menschelnde Reportagen, tatsächlich jedoch vor allem über sich selbst.
»Ich wollte Sie fragen, ob ich vielleicht vorbeikommen und mich mit Ihnen unterhalten könnte.«
»Es ist sieben Uhr morgens«, erinnerte Cindy sie mit einem Blick zur Uhr.
»Wann immer es Ihnen passt.«
»Worüber möchten Sie denn mit mir sprechen?«
»Über Julia natürlich«, antwortete Elizabeth, und der Name ging ihr so leicht über die Lippen, als hätte sie Julia schon ihr Leben lang gekannt. »Und über Sie.«
»Über mich?«
»Über das, was Sie durchmachen.«
»Sie haben keine Ahnung, was ich durchmache.« Cindy wischte sich eine ungebetene Träne ab und spürte, wie sofort eine neue über ihre Wange kullerte.
»Deshalb möchte ich ja, dass Sie es mir erzählen«, drängte die Frau sanft.
Cindy schüttelte den Kopf, als könnte die Reporterin sie sehen. »Ich glaube nicht.«
»Bitte«, sagte Elizabeth Kapiza leise. »Ich kann Ihnen helfen.«
»Indem Sie das Schicksal meiner Tochter ausbeuten?«
»Cindy«, sagte Elizabeth Kapiza, und der Name schmiegte sich um Cindys Schulter wie der Arm eines Geliebten, »je mehr Öffentlichkeit diese Fälle bekommen, desto größer ist die Chance auf ein Happy End.«
Ein Happy End, wiederholte Cindy stumm. Wie lange war es her, dass sie an ein Happy End geglaubt hatte? »Tut mir Leid. Ich glaube nicht, dass ich Ihnen irgendetwas erzählen könnte, was Ihnen weiterhilft.«
»Sie sind Ihre Mutter«, sagte Elizabeth schlicht.
»Ja«, bestätigte Cindy, ohne die Kraft aufzubringen, noch etwas hinzuzufügen.
»Würden Sie wenigstens darüber nachdenken und mich anrufen, wenn Sie es sich anders überlegen?« Elizabeth Kapiza gab ihre Nummer in der Redaktion, ihre Privatnummer und ihre Handynummer an und wiederholte alle noch einmal langsam, während Cindy sie gehorsam auf eine Kleenex-Schachtel kritzelte, obwohl sie nicht die geringste Absicht hatte, die Frau zurückzurufen.
Sie hatte kaum einen Fuß aus dem Bett gesetzt, als das Telefon erneut klingelte. Diesmal war es ein Reporter vom Globe and Mail , der ein Zitat von ihr haben wollte. Cindy murmelte stockend, dass sie nur wollte, dass ihre Tochter gesund und wohlbehalten nach Hause kam, eine Empfindung, die sie für die Reporter vom Star und von der Sun, die anriefen, als sie gerade aus der Dusche
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