Bevor der Abend kommt
war zu einem »Fall« geworden?
Das Telefon klingelte.
»Ich geh schon dran.« Sofort hatte Leigh den Hörer abgenommen. »Hallo?« Ihre Miene verfinsterte sich schlagartig. »Wer ist da?«
»Wer ist da?«, fragte Cindy wie ihr Echo.
»Sie krankes Arschloch!« Leigh knallte den Hörer auf die Gabel.
»Wer war das?«, fragte Cindy, eher amüsiert als alarmiert über den Ausbruch ihrer Schwester. »Wer war das?«, fragte sie noch einmal, obwohl sie die Antwort bereits wusste.
»Ist doch egal. Sie sind eh alle gleich.«
»Was hat denn dieser gesagt?«
»Den üblichen Mist.«
»Was denn?«
» Ich habe Ihre Tochter. Ich werde sie in kleine Stücke schneiden . Haha.«
Cindy schüttelte verwundert den Kopf, auch wenn sie die Grausamkeit ihrer Mitmenschen längst nicht mehr überraschte. Die Polizei hatte sie vor all den kranken Geistern da draußen gewarnt, den Perversen, die sich am Leid anderer ergötzten, sich in ihrem Elend suhlten. Legen Sie auf , hatte man ihr geraten. Oder gehen Sie am besten gar nicht erst ans Telefon. Manchmal hielt sich Cindy an ihren Rat, manchmal auch nicht.
Zehn Minuten später klingelte das Telefon erneut. »Ich geh ran«, sagte Cindy und war diesmal schneller als ihre Schwester.
»Also, ehrlich, Cindy, du hättest mich fast über den Haufen gerannt.«
»Hallo«, sagte Cindy.
»Selber hallo«, antwortete eine Stimme.
Sie klang gleichzeitig heiser und hell, tröstend und unheimlich, fremd und vertraut. Jemand versuchte ganz offensichtlich, sich zu verstellen. Warum? War es jemand, den sie kannte?
»Wer ist da?«
»Haben Sie die Zeitungen gesehen?«
»Wer ist da?«, wiederholte Cindy.
»Man vermutet, dass Julia das Opfer eines Serienmörders geworden sein könnte.«
»Wer ist da?«, fragte Leigh ungeduldig. »Was sagt er?«
»Es würde ihr recht geschehen«, fuhr die Stimme fort. »Ihre Tochter ist ein Flittchen, Cindy. Sie ist nichts als eine billige Nutte.«
Ein spitzer Schrei zerriss die Luft, fetzte durch die Telefonleitung und bohrte sich in Cindys Ohr.
»Mein Gott«, sagte sie und spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich, als sie das Geräusch identifizierte.
»Himmel noch mal, Cindy«, sagte Leigh, »leg den verdammten Telefonhörer auf.«
Cindy hielt den Atem an und lauschte erneut nach dem Geräusch. Es wiederholte sich nicht, doch das war egal, denn Cindy wusste genau, was es gewesen war.
Ein schreiendes Baby.
»Faith?«, flüsterte Cindy.
Doch die Leitung war tot.
Cindy stürzte zur Haustür, Leigh blieb dicht auf ihren Fersen.
»Wohin gehst du? Was machst du?«, rief sie ihr nach, als Cindy die Treppe hinunterlief und durch die Büsche in den Vorgarten ihrer Nachbarn stürmte.
Cindy spürte Leighs Hand und versuchte, sich loszureißen, doch die Finger ihrer Schwester umklammerten ihren Arm wie eine zähe Schlingpflanze, die sich nicht so einfach abschütteln ließ. »Lass los«, zischte Cindy mit fest zusammengebissenen Zähnen und befreite sich mit einem kräftigen Ruck.
»Cindy!«, hörte sie Leigh rufen, als sie die Treppe zum Haus der Sellicks hinaufpolterte, ohne sich noch einmal umzusehen.
Cindy hatte gerade den oberen Absatz erreicht, als die Tür geöffnet wurde. »Cindy!«, rief Faith, sichtlich überrascht, sie zu sehen. Sie schloss die Tür hinter sich und rückte den grünen
Cordtragegut vor ihrer Brust zurecht, in dem Kyle friedlich schlief, die Augen fest geschlossen und zufrieden an seinem Schnuller nuckelnd. »Was ist passiert? Gibt es irgendetwas Neues?«
»Haben Sie mich gerade angerufen?«, fragte Cindy.
»Was?«
»Haben Sie mich gerade angerufen?«
»Ich Sie angerufen? Nein. Warum?«
»Sie haben nicht gerade bei mir angerufen?«
»Was ist los?« Faith blickte an Cindy vorbei zu Leigh, die jetzt am Fuß der Treppe stand.
Leigh warf die Hände in die Luft, als wollte sie sagen, dass auch sie keine Ahnung hatte.
»Irgendjemand hat mich gerade angerufen. Und im Hintergrund hat ein Baby geschrien.«
»Na, kein Wunder, dass sie gedacht haben, ich wäre es.« Faith lächelte und strich zärtlich über den Kopf ihres Sohnes. »Kyle war es trotzdem nicht. Ob Sie’s glauben oder nicht, er hat den ganzen Vormittag geschlafen wie ein Engel. Ich glaube wirklich, dass wir eine Hürde genommen haben. Alles in Ordnung? Sie sehen nicht besonders aus.«
»Komm, Cindy«, sagte Leigh. »Soll sich die Polizei darum kümmern.«
»Die Polizei?«, fragte Faith.
»Sie hört unser Telefon ab.«
»Die Polizei hört Ihr Telefon ab?
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