Bevor der Abend kommt
Warum?«
»Wir haben eine Menge Anrufe von Spinnern bekommen«, erklärte Leigh. »Was nicht so häufig passieren würde, wenn meine Schwester eine Nummernanzeige hätte.« Sie führte Cindy die Treppe hinunter zum Bürgersteig. »Wir nehmen den langen Weg nach Hause, wenn du nichts dagegen hast.«
»Tut mir Leid, dass ich so an deinem Arm gerissen habe«, sagte Cindy.
»Vergiss es.«
»Sie hätte mir fast den Arm gebrochen. So heftig hat sie daran gezerrt«, erklärte Leigh ihrer Mutter, sobald diese vom Spaziergang mit dem Hund zurückkam.
»Du hast am Arm deiner Schwester gezerrt?«, fragte ihre Mutter Cindy ungläubig und folgte dem Hund in die Küche. »Hm, was riecht denn hier so lecker?«
»Ich backe einen Zitronenkuchen«, sagte Leigh.
»Du sollst dich nicht mit deiner Schwester streiten«, tadelte ihre Mutter kopfschüttelnd. »Ehrlich, ich kann euch beide keine Minute allein lassen.«
Das Telefon klingelte.
»Geh nicht ran«, befahl Leigh.
»Vielleicht ist es Julia«, erwiderte Cindy voller Hoffnung.
»Das würde nicht passieren, wenn du eine Nummernanzeige hättest«, bemerkte ihre Mutter.
Cindy nahm den Hörer ab und machte sich auf das Schlimmste gefasst.
Es war Meg. »Wie geht es dir?« Ihre Stimme klang gehetzt, als würde sie beim Laufen sprechen, und genau das tat sie auch. Cindy stellte sich vor, wie sie die Bloor Street hinunterrannte, um möglichst schnell von einem Kino zum nächsten zu kommen und ja nichts zu verpassen. Das Festival war seit zwei Tagen im Gange, und obwohl weder Meg noch Trish es mit einem Wort erwähnt hatten, wusste Cindy, dass sie ohne sie zu den Vorführungen gingen.
Sie begriff, dass das Leben weiterging, auch wenn sie sich wünschte, auf einen Knopf zu drücken, um die Zeit ebenso leicht anhalten zu können wie ein Bild auf ihrem Fernsehschirm.
Sie wusste, dass sie Meg und Trish deswegen nicht verurteilen sollte. Man konnte von ihren Freundinnen schließlich nicht erwarten, dass sie wegen etwas, was sie eigentlich nicht direkt betraf, all ihre Pläne aufgaben und ihr Leben anhielten. Sie sollte es ihnen nicht übel nehmen, dass sie lachten und sie für Stunden
vergaßen. Sie sollte es nicht tun, dachte sie. Aber sie tat es trotzdem.
»Ich habe in der Zeitung von dem anderen vermissten Mädchen gelesen«, sagte Meg, während im Hintergrund ein Auto hupte. »Was denkt die Polizei wirklich?«
Cindy schüttelte wortlos den Kopf.
»Hör mal, du musst doch bei dir zu Hause langsam einen Koller kriegen. Warum siehst du dir nicht mit uns einen Film an?«
»Einen Film?«
»Ich weiß, es klingt frivol, und ich will auch nicht unsensibel klingen. Ich dachte bloß, es wäre vielleicht eine gute Idee, wenn du mal ein paar Stunden aus dem Haus kommst, frische Luft schnappst, deine Mutter eine Weile nicht um dich hast und dich von allem ablenken lässt.«
»Glaubst du, es wäre so leicht?«
Meg seufzte wie ein Mensch, der sich vorsätzlich missverstanden fühlt. »Natürlich ist es nicht so leicht. Ich wollte nicht andeuten …«
»Ich weiß. Tut mir Leid.«
»Wirst du wenigstens drüber nachdenken?«
»Klar«, sagte Cindy, obwohl sie nicht die geringste Absicht hatte, dergleichen zu tun.
»Ruf mich auf dem Handy an. Ich lasse es den ganzen Tag an.«
Cindy lächelte, weil sie wusste, wie ungehalten die Gäste des Filmfestivals reagieren konnten, wenn während einer Vorführung irgendwo ein Handy klingelte.
»Ich liebe dich«, sagte Meg.
»Ich liebe dich auch.«
Ihre Mutter und ihre Schwester starrten sie angespannt und sprungbereit an, um beim geringsten Anzeichen von Unbehagen einzugreifen. Seit Cindy einmal ohnmächtig geworden war, beobachteten sie sie stets wachsam und ließen sie nie ganz aus den Augen. Sie fragte sich, ob irgendjemand sie je wieder so
ansehen würde wie vorher – ohne Mitleid, ohne Trauer, ohne Angst.
Mit einem Kopfschütteln versuchte Cindy, solch depressive Gedanken zu vertreiben. Meg hatte Recht – sie kriegte langsam einen Koller. Sie brauchte frische Luft.
»Ich gehe oben duschen«, sagte ihre Mutter. »Warum legst du dich nicht ein bisschen hin?«
»Ich bin nicht müde«, sagte Cindy.
»Ganz sicher?«, fragte Leigh, nachdem ihre Mutter den Raum verlassen hatte.
Cindy ließ sich auf einen der Küchenstühle sinken und sah zu, wie ihre Schwester die Glasur für den Kuchen vorbereitete. »Du musst das nicht machen, das weißt du, oder?«
»Ja, ich weiß.«
»Hast du heute schon mit Warren
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